Gerade zurück von der Probe in der Laeiszhalle, wo die Symphoniker Hamburg unter Sylvain Cambreling sein Orchesterstück „Schreiben“ aufführen, nimmt sich Helmut Lachenmann in der Brasserie des Hotels Grand Elysée Zeit für ein Interview – und erklärt was Musik mit Beobachtung zu tun hat.
Herr Lachenmann, wenn man Leute fragt, warum Sie Konzerte mit klassischer Musik besuchen, werden viele antworten, weil sie diese Musik so schön finden. Sie haben einmal gesagt: Schönheit ist verweigerte Gewohnheit. Können Sie diesen Satz erläutern?
Helmut Lachenmann: Ich habe mich damit nur gegen die bürgerliche Verwaltung des Begriffs „Schönheit“ wehren wollen, der impliziert, dass Genuss und Gewohnheit dasselbe sind. Man sollte bereit sein, seinen geliebten Schubert auch mal auf eine ganz andere Weise zu erleben. Deshalb liebe ich es, wenn Kompositionen zweimal hintereinander gespielt werden. Beim zweiten Hören bemerkt man Dinge, die man vorher nicht beachtet hat.
Mit Ihrer „Musique concrète instrumentale“ rücken Sie die Art und Weise der instrumentalen Klangerzeugung in den Vordergrund: Sie entfernen sich möglichst weit von den gewohnten Klängen der Orchesterinstrumente, ohne aber auf sie zu verzichten. Warum haben Sie das traditionelle Instrumentarium nie durch andere Klangerzeuger und Geräuschquellen ersetzt?
Lachenmann: Elektronische Musik habe ich immer vermieden. Klänge, die aus dem Lautsprecher kommen, sind ungefährlich. Es gibt Komponisten, die komponieren ein elektronisches Paradies fremdartiger Klänge und Geräusche. Dabei sollten sie lieber versuchen, einen Grund zu finden, Dinge zuzulassen, die sie eigentlich vermeiden möchten.
Von den analytischen Denkmustern der musikalischen Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg – dazu zählte auch Ihr Lehrer Luigi Nono – haben Sie sich schnell befreit …
Lachenmann: Mir ging es immer um die Energie, die in den Klängen steckt. Ich möchte die Geige mit ihrer ganzen Tradition erfassen, dabei sollen auch die ungewohnten Klänge möglichst schön sein. Wenn ein Trompeter tonlos spielt, kann ich trotzdem ein Fortissimo von ihm verlangen, bei dem ich eine Intensität, seine Anstrengung höre. Das ist dann ein psychologisches Fortissimo. Oder nehmen Sie meine Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, die in Hamburg uraufgeführt wurde. Da habe ich das Anreißen des Streichholzes musikalisch verwandelt. Ein Streichinstrument ist ja auch ein Streichholz. Und mit der Übertragung der gleichen Bewegung auf einen Güiro kann ich den Klang perforieren. So habe ich meinen eigenen musikalischen Bungalow entdeckt, der permanent zerstört und wieder aufgebaut werden muss.
Um mit jedem Stück Neuland zu betreten?
Lachenmann: Deshalb bin ich nicht so produktiv wie andere Komponisten, erlebe aber auch viele Dinge, auf die ich nicht gefasst bin. Natürlich geht das manchmal total daneben, aber man muss gefährlich leben und in jedem Paradies den Apfel finden, sonst ist es die Sache nicht wert. Eine Familie kann einem wunderbare Geborgenheit schenken – aber wehe, wenn man den Weg hinaus nicht findet! So ist für mich jedes Stück der Versuch, auf eine andere Weise Musik zu machen, denn tief berührt bin ich nur, wenn ich außerhalb meines Horizonts lande. Dabei bin ich meinen eigenen Stücken gegenüber sehr tolerant, denn gescheiterte Dinge sind in ihrer Form auch lebendig.
Gibt es auch eine Gefühlsebene in Ihrer Musik?
Lachenmann: Expressive Musik interessiert mich nicht. Ich würde niemals eine Covid-Sinfonie oder ein Holocaust-Oratorium schreiben. Die hört man sich an, ist tief bewegt, wie es sich gehört, und geht hinterher einen saufen. Mit meiner Musik möchte ich irritieren. Die Irritation gehört zu einem lebendigen Musikerlebnis und eröffnet neue Möglichkeiten des Denkens, so wie ich das Abenteuer brauche, um mit dem Komponieren anfangen zu können.
Setzen Sie auch diejenigen, die Ihre Musik interpretieren, dem Abenteuer und der Gefahr aus? Gibt es Raum für den Zufall?
Lachenmann: Manches notiere ich sehr genau, aber es gibt auch Spielräume, die ich nicht exakt definiere, so dass Konstellationen entstehen, die bei jeder Aufführung anders sind. In meinem Orchesterstück „Schreiben“ gibt es Stellen, in denen der Dirigent aussetzt und die Musiker den Rhythmus selber zählen. Interessanterweise zählen viele Musiker dann plötzlich schneller, um es einfach hinter sich zu bringen.
Mit diesem 2003 uraufgeführten Werk übertragen Sie den mechanischen Vorgang des Schreibens auf die Spielweise der Orchesterinstrumente …
Lachenmann: Von Bach bis Brahms vollführt der Streichbogen immer die gleiche Bewegung. Bei mir „zeichnen“ die Musiker zum Beispiel in einem zum Teil genau festgelegten Rhythmus ein Dreieck oder Rechteck auf die Saiten. Das ergibt natürlich einen veränderten Klang. Der Vorgang des Schreibens war für mich aber nur eine Erfindungshilfe, ein Startmoment, den man vielleicht im Kopf behält, aber technisch verlassen muss.

Im Mai dieses Jahres hat die GEMA über die Aufhebung der Unterscheidung zwischen E- und U-Musik abgestimmt – zunächst ohne Mehrheit für eine Änderung …
Lachenmann: Das ist wirklich dummes Zeug! Wie sollen zukünftig Kollegen der Unterhaltungsmusiker und in der finanziellen Behandlung mit ihnen gleichgeschaltet werden? Da gnade uns Gott! Wir sind knapp vorbeigeschrammt an der Katastrophe. Aber nächstes Jahr im Mai gibt es eine neue Abstimmung. Ich bin ziemlich hoffnungslos.
Warum haben wir verlernt zu erkennen, wo unsere kulturellen Werte liegen?
Lachenmann: Man müsste schon in den Schulen viel mehr aufklären. Ich habe in Bissingen einmal eine Klasse von 13-Jährigen unterrichtet und angekündigt, ich spiele ihnen jetzt die schönste Musik vor, die in diesem Jahrhundert geschrieben wurde: Klavierstücke von Stockhausen. Sie fanden die aber überhaupt nicht schön, weil sie nur ihre Pop-Musik kannten. Ich war total niedergeschmettert. In der nächsten Stunde habe ich ein sexy Foto von Gina Lollobrigida gezeigt, daneben Albrecht Dürers Zeichnung von seiner totkranken Mutter und gesagt: „Ihr wisst doch genau, was schön ist. Also?“ Da blieb es erst mal still, und dann sagte ein Mädchen auf Schwäbisch – das werde ich nie vergessen: „D wiaschd isch scheener.“ Sie fand „das hässliche“ Bild schöner, weil es gemalt war und nicht bloß eine Fotografie. Man muss lernen, die Gewohnheit zu verweigern. In dieser Hinsicht fühle ich mich als Komponist gar nicht so nutzlos. Aber unter dem Aspekt, der heute dominiert, sind Komponisten eigentlich überflüssig.
Sie spielen auf die Wiederentdeckung von Melodie und emotionalem Ausdruck an?
Lachenmann: Melodien sind eigentlich keine Musik, sondern ein Medium für das Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören. Beim Hören sollte man beobachten, sich auch selbst beobachten und einen Sinn für die Anatomie des Klangs entwickeln.
Am 27. November feiern Sie Ihren 90. Geburtstag. Haben Sie, wenn Sie auf Ihr künstlerisches Schaffen zurückblicken, den Eindruck, alles gesagt zu haben? Oder ist das Komponieren für Sie ein prinzipiell unabschließbarer Prozess?
Lachenmann: Man sagt, Alter schützt vor Torheit nicht. Aber ich sage, Torheit schützt vor Altern nicht. Das ist mein Problem (lacht). Ich merke, dass ich etwas müde werde. Trotzdem gibt es immer wieder neue Dinge zu tun, so wie die Gesellschaft sich auch ständig ändert. Und wenn es irgendwann nicht mehr geht, höre ich halt auf.
Termintipp
Mi., 19. November 2025 20:00 Uhr
Konzert
Ensemble Modern, IEMA-Ensemble, Sylvain Cambreling
Chin: Graffiti, Lachenmann: Concertini
Termintipp
Mi., 26. November 2025 20:00 Uhr
Konzert
Helmut Lachenmann zum 90. Geburtstag
Ensemble Modern, IEMA-Ensemble 2024/25, Sylvain Cambreling (Leitung)
Termintipp
Do., 27. November 2025 20:00 Uhr
Konzert
Jean-François Heisser, SWR Symphonieorchester, François-Xavier Roth
Lachenmann: Ausklang, Beethoven: Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92
Fr., 28. November 2025 19:30 Uhr
Konzert
Quatuor Diotima, Ensemble Resonanz
Lachenmann: Streichquartette Nr. 1 „Gran Torso“, Nr. 2 „Reigen seliger Geister“ & Nr. 3 „Grido“
Termintipp
Fr., 28. November 2025 20:00 Uhr
Konzert
Jean-François Heisser, SWR Symphonieorchester, François-Xavier Roth
Lachenmann: Ausklang, Beethoven: Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92
Termintipp
Sa., 29. November 2025 20:00 Uhr
Konzert
Internationale Ensemble Modern Akademie, Ensemble Modern, Sylvain Cambreling
Chin: Graffiti, Lachenmann: Concertini
Termintipp
Sa., 29. November 2025 20:00 Uhr
Konzert
Jean-François Heisser, SWR Symphonieorchester, François-Xavier Roth
Lachenmann: Ausklang, Beethoven: Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92



