Startseite » Reportage » „Ich hatte unheimliches Glück im Leben“

Lebenswege Hélène Grimaud

„Ich hatte unheimliches Glück im Leben“

Eigentlich sollte Hélène Grimaud beim Musikunterricht ihre überschüssige Energie loswerden. Doch das Klavier wurde – ebenso wie ihre Naturverbundenheit – zum Lebenselixier. Hier erzählt die Pianistin von ihrem Lebensweg.

vonNinja Anderlohr-Hepp,

Meine frühe Kindheit verbrachte ich mit meinen Eltern in Aix-en-Provence. In meiner Familie gab es eine seltsame Mischung der Religionen – Katholizismus, Judentum, andere Glaubensrichtungen –, aber keinen Glauben an den einen Gott. Ich würde sagen, ich bin eher spirituell als religiös aufgewachsen. Dazu passt auch eine sehr frühe Kindheitserinnerung. Ich muss vier oder fünf Jahre alt gewesen sein und fuhr mit meinen Eltern mit dem Auto zum Wandern in die Alpen. Plötzlich wurden am Horizont die ersten Bergrücken erkennbar. Ich konnte mich nicht sattsehen, war mir sicher, dass dort oben jemand sein müsste. Und dass, wenn ich nur lange genug hinsähe, ich dort auch jemanden entdecken würde. Im Nachhinein war das ein sehr spiritueller Moment.

Schon als Kind begeisterte sich Hélène Grimaud für die Natur
Schon als Kind begeisterte sich Hélène Grimaud für die Natur

Die zweite Erinnerung ist das komplette Gegenteil dazu. Ich hatte meine Eltern lange um ein Haustier angebettelt: Als Einzelkind wollte ich etwas Lebendiges um mich herum haben. Sie erklärten mir wenig überzeugend, dass unsere Wohnung zu klein und die Umgebung nicht für ein Tier geeignet sei. Schließlich schenkten sie mir: ein Kuscheltier. Ich warf mich, scheinbar vor Freude und Glück schreiend, auf den Boden, um meinen Eltern zu zeigen, wie glücklich ich war. Doch eigentlich habe ich ihnen diese Szene nur vorgespielt, um sie glücklich zu machen. Das war meine erste Erfahrung mit etwas durch und durch Unechtem, Falschem, Aufgesetztem; eine gespielte positive Resonanz und Emotion, um die gute Stimmung nicht zu trüben. Als Kind hatte ich viele Rituale: Ich war sehr ordentlich, an der Grenze zur Zwangsstörung, perfektionistisch und mir selbst nie gut genug. Ich war besessen von dem Gefühl, dass bestimmte Dinge nicht oft genug, nicht nachdrücklich genug gesagt oder getan worden waren, und wiederholte sie deshalb wieder und wieder. Das muss sehr anstrengend gewesen sein für meine Eltern.

Erst die Musik hat mir dabei geholfen, mit diesen Problemen umzugehen. Ich liebte die wunderbare Gesangsstimme meiner Mutter, aber ansonsten existierte Musik nicht wirklich für mich. Zwar lief bei uns zu Hause das Radio, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals einen Lieblingssong gehabt hätte. Meine Eltern hörten auch nie Klassik, es gab sie also auch für mich faktisch nicht. Aber gelesen habe ich viel, vor allem Geschichtensammlungen aus verschiedensten Ländern und Kulturen, persische Märchen, chinesische Legenden, griechische Sagen. Ich erinnere mich an die farbenprächtigen Illustrationen, die ich in diesen Büchern fand und die mich mit auf die Reise in ferne Länder nahmen.

Jugend in der Provence
Jugend in der Provence

Zur Musik kam ich über Umwege. Meine Eltern suchten ein Hobby für mich, damit ich meine überschüssige Energie loswerden konnte. Ich versuchte mich in verschiedenen Sportarten, sogar im Tanz, aber ich war steif wie ein Brett. Die letzte Option war Musik. Und schon in der ersten Unterrichtsstunde legte sich bei mir ein Schalter um. Es war nicht die physische Energie, die aus mir heraus musste, sondern eine psychische und emotionale. Die Musik nahm meine Fantasie ein und kanalisierte sie zu etwas Produktivem und Sinnvollem. Das war ein großes Glück.

Hélène Grimaud: „Jeder Einzelne, dem ich je begegnet bin, hat einen Eindruck hinterlassen“

Meine Familie und ich sind im Mai aus Kali­fornien nach Hause zurückgekehrt, eine Woche lang fuhren wir mit dem Auto vom einen Ende Amerikas zum anderen. Wir leben in der Nähe von New York, fokussieren uns auf das Landleben, auf unsere Tiere und das Wolf Conservation Center, das ich 1999 gegründet habe. Solange es während der Pandemie kein Musikleben in den Städten gibt, muss ich da auch nicht hin. Nicht von ungefähr haben mich schon im Kindesalter Natur­klänge fasziniert. Wann immer wir dem Stadtlärm von Aix-en-Provence entflohen und rausfuhren, hörte ich dem Wind zu und lauschte den Vögeln. Besonders die Geräusche der Nacht zogen mich in ihren Bann und tun das bis heute.

Hélène Grimaud mit ihren Hunden
Hélène Grimaud mit ihren Hunden

Ich werde oft gefragt, was ich denn jetzt so den ganzen Tag mache. Ich habe nichts Neues über mich gelernt. Aber ich wurde in dem bestärkt, was ich bereits wusste: dass ich nicht nur für meinen Beruf existiere. Für mich geht es plötzlich darum, die Stille und den Stillstand um mich herum zu akzeptieren und mein Menschsein, das so an Aktion gebunden war, darauf einzustellen. Die Situation zwingt uns alle dazu, unser Leben neu zu definieren, neu zu denken. Dafür hatte ich im Alltag häufig keine Zeit – mit all den Tourneen und den Plänen, die ich Jahre im Voraus gemacht habe. Was wir aber nicht vergessen dürfen: Auch wenn diese Zeit für uns entmutigend und demotivierend ist und uns verzweifeln lässt, geht es uns erstaunlich gut. Wenn ich sehe, was die Pandemie bedeutet – Kurzarbeit, Kündigungen, existenzielles Leid – dann rückt das meine Wahrnehmung in ein ganz anderes Licht. Ich hoffe, dass wir aus dieser Zeit ein Mehr an sozialer Verantwortung und Zivilcourage mitnehmen und dass viele Menschen erkennen, wie zerbrechlich unsere Vorstellung eines geregelten Lebens ist. Wir müssen anfangen, bewusster zu leben – in jeder Hinsicht.

Ich hatte unheimliches Glück im Leben. Mit der Hilfe anderer Menschen habe ich, was die Musik, meine Projekte zum Artenschutz und meine Bücher anbelangt, viel erreicht. Ich stelle mir das so vor: Man selbst trägt eine bestimmte Menge an Energie in sich und gibt diese an andere ab. Und gleichzeitig bekommt man dieselbe Energie oder im Bestfall sogar mehr zurück. Jeder Einzelne, dem ich jemals begegnet bin, hat bei mir einen Eindruck hinterlassen, ob das nun meine erste Klavierlehrerin in Aix-en-Provence war oder die Professoren, die ich mit zwölf in Paris an der Hochschule traf. Mein erstes Mal beim Lockenhaus Festival, als ich mit sechzehn oder siebzehn all diese herausragenden Musiker wie Gidon Kremer und Martha Argerich kennenlernen durfte, hat mich regelrecht verändert.

Hélène Grimaud in der Elbphilharmonie
Hélène Grimaud in der Elbphilharmonie

Aber insbesondere ­Pierre Barbizet bin ich sehr verbunden. Er hat mir gezeigt, was ein guter Lehrer ist: Er formt dich, schubst dich in die richtige Richtung, ohne dir Vorgaben zu machen, und gibt dir dadurch die Chance, eigene Erfahrungen zu machen und dich selbst zu finden. Von ihm habe ich schon im Alter von zehn Jahren gelernt, dass man sich immer bemühen sollte, alles in sich aufzusaugen, was man von anderen Menschen lernen kann. So wird eine Begegnung zum Ausgangspunkt der nächsten, und die Erfahrungen, die man macht, bauen aufeinander auf. Und so ergibt sich dann der eigene Lebensweg.

„Für mich war es hilfreich, mir ein Leben außerhalb der Musikindustrie aufzubauen“

Menschen, die Kunst schaffen, ziehen sich häufig in die Natur zurück. Fernab der Zivilisation suchen sie sich Orte der Inspiration und Verbundenheit mit einem größeren Ganzen, den eigenen Instinkten und einer gewissen Ursprünglichkeit. Viele von uns haben den Bezug zu dieser Ursprünglichkeit verloren: Sie hetzen, vergessen ihre eigene Identität, ihre innere Stimme. Doch wenn man sich verliert, nimmt man deren Bedürfnisse nicht mehr wahr. Jeder Einzelne von uns hat die Wahl, in welche Richtung er am Ende gehen möchte. Ich habe aber noch nie jemanden getroffen, dem es geschadet hat, auf sich selbst, auf seinen Bauch zu hören. Ich halte nichts zurück, weder Gutes noch Schlechtes. Was ich tue, tue ich mit größtmöglicher Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Freigebigkeit gegenüber dem Publikum. Wenn ich mein Leben nicht so führen könnte, hätte es für mich keinen Sinn. Beruflich das machen zu können, wofür das eigene Herz brennt, ist das größte Privileg.

Hélène Grimaud setzt sich für den Tierschutz ein
Hélène Grimaud setzt sich für den Tierschutz ein

Ich selbst hatte Glück und musste nie einer bestimmten Erwartung, einem Image entsprechen. Ein Künstler muss unabhängig sein. Für mich selbst war es hilfreich, mir ein Leben außerhalb der Musikindustrie aufzubauen. Ich glaube, dass mich dieser alternative Lebensentwurf davor bewahrt hat, mich zu sehr mit meinem Beruf zu identifizieren und nicht mehr zu wissen, wo die Pianistin Grimaud aufhört und die Privatperson Grimaud anfängt. Man braucht meiner Meinung nach ein überdimensionales Ego, um auf der Bühne zu stehen. Wenn das nicht vorhanden ist, geht man unter. In diesem Fall ist das Ego aber nichts Negatives, sondern man muss es eher wie ein wildes Tier betrachten: Wenn man es richtig behandelt, ihm Auslauf gibt, aber auch Grenzen aufzeigt, wird es zum Verbündeten. Diese Aufgabe übernimmt meist das Leben selbst, denn es hat seinen eigenen Rhythmus, den man nicht beeinflussen kann. Ich finde es faszinierend, dass man gleichzeitig von sich selbst überzeugt sein muss, aber auch nicht vergessen darf, den Blick auf seine Umgebung zu richten. Tut man das nicht, verpasst man die wirklich wichtigen, besonderen Momente im Leben. Wenn ich eines gelernt habe, dann das: Was man mit dem Herzen wahrnimmt, schlägt alles Ratio­nale. Man muss verstehen, dass unser Leben wie der Schlag eines Pendels ist: Wenn man auf der einen Seite angekommen ist, muss man auch den Rückweg kennen.

Ich möchte in und mit meinem Leben etwas erreichen, für das es sich lohnt, erinnert zu werden. Ob das Kunst ist oder der Schutz bedrohter Tiere, ist mir absolut egal. In der Musik erschaffe ich nichts, ich bin nur das Leitmaterial, durch das der Klang fließt, ich gestalte eine Interpretation des Werks eines Anderen und leihe ihm meine Stimme und subjektive Auslegung. Wenn man aber etwas erschafft, gibt man es der Welt, und sie spielt damit, das Werk wird unabhängig. Durch meine Arbeit möchte ich den Menschen Immaterielles schenken: Hoffnung, Trost, Mut und die Option, Dinge in einem anderen Licht zu sehen. Wenn ich das erreichen kann, bin ich zufrieden.

Album Cover für The Messanger

The Messanger

Werke von Mozart & Silvestrov Hélène Grimaud (Klavier & Ltg.) Camerata Salzburg DG

Termine

Auch interessant

Rezensionen

  • Asya Fateyeva steht mit Hingabe für die Vielseitigkeit ihres Instruments ein.
    Interview Asya Fateyeva

    „Es darf hässlich, es darf provokant sein“

    Asya Fateyeva, Porträtkünstlerin beim Schleswig-Holstein Musik Festival, spricht über den Reiz und die Herausforderungen des für die Klassik so ungewöhnlichen Saxofons.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!