Blind gehört Hanna-Elisabeth Müller
„Hier fehlt mir die Mystik, das Geheimnis“
Hanna-Elisabeth Müller hört und kommentiert Aufnahmen, ohne dass sie weiß, wer singt.
© Chris Gonz

Hanna-Elisabeth Müller
Es ist wie im Quiz, ein bisschen wieder wie damals auf der Schulbank. Mit ernster, konzentrierter Miene hört Hanna-Elisabeth Müller unter Wahrung der gegebenen Distanzregeln zu. Mit der einen oder anderen Primadonna hat die Mannheimerin trotz ihrer erst 35 Jahre sogar auf der Bühne gestanden. Ob sie sie erkennt?
Eine aktuelle Aufnahme, das erkennt man an der Klangqualität und auch stilistisch. Alles ist sehr instrumental, sehr puristisch gesungen, typisch für die Interpretationen unserer Zeit. Wir verzichten bewusst auf viele Portamenti, auf das Anschleifen der Töne. Das ist bestimmt die Kollegin Frau Mühlemann. Man hört heraus, dass sie auch sehr gut in der Interpretation älterer Musik ist, auch an der Art, wie sie die Vorhalte singt. Das ist eine sehr schöne Aufnahme. – Sie beanstanden die Textverständlichkeit? Das ist im Sopranfach schwierig, da die Lage weit entfernt ist vom natürlichen Sprechregister. Um die Klangqualität der Stimme zu erhalten, verzichtet man oft auf das genaue Artikulieren der Konsonanten. Schließlich wird man als Sänger besonders dann kritisiert, wenn etwas mit dem Klang nicht stimmt. Das soll aber keine Entschuldigung sein. Für mich ist es immer ein sehr großes Lob, wenn das Publikum sagt, dass es den Text verstehen konnte.
(nach zwei Takten) Lucia Popp! Man erkennt sie sofort am Klang. Was für eine großartige Künstlerin! Und was für ein Verlust, dass sie so früh gestorben ist. Ihr Gesang ist so wahrhaftig, so unmittelbar berührend. Als ich die Rolle der Pamina einstudierte, war ihre Aufnahme meine Referenz. Ich habe sie nie persönlich gehört, kannte lediglich ihren Friseur … – Ob es unser Traum ist, sofort am Klang der Stimme erkannt zu werden? Irgendwie schon, obwohl ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht habe. Einerseits ist es schön, an der Stimmfarbe identifiziert zu werden, weil einem das ein Gefühl der Einzigartigkeit gibt. Auf der anderen Seite geht es darum, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, verschiedene Charaktere darzustellen, und da könnte dieser „Wiedererkennungswert“ einem eher im Wege stehen.
Diese Hingabe, so fein gesponnen, so fragil. Berückend schön! Wenn ich doch wüsste, wer das ist. Edith Mathis? In einem Meisterkurs erlebte ich sie als eine feine ruhige Dame, die aus dem Unterricht nicht ein Theaterauftritt machte. Sie sagte mir damals, dass sie es für eine Wohltat hielt, dass ich einfach nur konzentriert dastünde und anfangen würde zu singen, ohne große Gesten oder Pathos.
Das Lied habe ich letztens aufgenommen. Der Einstieg ist sehr schwer, weil es kein Vorspiel, keinen Mitspieler, keine Hilfe gibt. Die Sängerin muss nach drei Tönen die Stimmung hergestellt haben, aus sich selbst heraus sozusagen, und das ist sehr schwer. Doch hier fehlt mir die Mystik, das Geheimnis. Die Interpretin versucht beides zu erzeugen, doch irgendwie wirkt alles etwas künstlich und gewollt. Barbara Hannigan habe ich in Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ erlebt. Auf der Bühne war sie wie ein Magnet mit ihren ästhetischen Bewegungen. Man wollte nichts verpassen. Ich erinnere mich noch: In einer Szene kniete sie am Tisch und bewegte nur ihre Finger. Das hat ausgereicht, um uns alle in den Bann zu ziehen. Eine große Bühnenpersönlichkeit, die man vor allen Dingen sehen muss.
Dieskau ist das! Oder Gerhaher? Nein, Dieskau. Ich habe Schwierigkeiten, mich zu entscheiden.
Das ist Dieskau. Das erkenne ich an den Portamenti. Beide sind einfach großartig! Opus neunzig kann ja problemlos auch von einer Frau gesungen werden, doch es ist schade, dass so viele Lieder aus der männlichen Perspektive komponiert wurden. Ich würde so gerne die „Winterreise“ singen, aber irgendwie passt eine Frau nicht in die Rolle des männlichen einsamen Wanderers, der sich in der Sehnsucht verzehrt, die weibliche Liebe zu finden. Es sind ja nicht nur die Texte, die dies schwierig machen; das Transponieren ist nicht immer die Lösung. Man braucht die sonore, männliche Tiefe, um die Inhalte wahrhaftig zu vermitteln. Außerdem gibt es genug Repertoire für Frauen.
Jetzt bin ich überfragt. Welcher Sopran könnte das sein, der die Donna Anna so dunkel gefärbt singt? – Eine andere Mozart-Arie von ihr soll in einer Tonkonserve in einer Raumkapsel durch das Weltall reisen? Oh, da muss ich passen … Edda Moser soll das sein? Eine sehr heikle Partie, aber meine liebste Partie.
Ist das Kiri Te Kanawa? Nein? Das soll Diana Damrau sein? Aber man erkennt sie doch immer an der Art, wie sie Vokale singt und die Farben wechselt! Von wann ist denn die Aufnahme? Von 2008? Manche Koloraturstimmen ändern sich mit der Zeit kaum, aber bei anderen mischen sich mit der Zeit und den Erfahrungen sehr interessante Farbwerte ein. Und das ist auch bei ihr der Fall. Ich bewundere sehr, wie sie ihre Rollen aussucht, wie sie die Texte angeht, auch ihre unglaubliche Agilität auf der Bühne.
Edita Gruberová! Man erkennt die Kolleginnen an der Art, wie sie Vokale färben. Auch sie hat meiner Meinung nach immer die richtigen Entscheidungen getroffen und über viele Jahrzehnte ihre Stimmschönheit erhalten. Sie übernahm keine falschen oder zu schweren Partien, sie hat immer darauf geachtet, dass die Stimme gesund bleibt, hat sich Ruhepausen gegönnt. Eine kluge Sängerin und herrlich elegante Persönlichkeit mit ihren Hüten, Mänteln und Schuhen. Viele glauben, unser Beruf bestünde nur aus den drei Stunden auf der Bühne. Nein! Unsere Körper arbeiten unentwegt auf Hochtouren, wir müssen uns ständig an neue Wohnungen oder Hotels, neue Theater, neue Kollegen, neue Dirigenten oder an unterschiedliche Klimata gewöhnen. Eine ständige Adrenalinausschüttung findet statt, das ist nicht unbedingt sehr gesund. Die Anstrengungen in unserem Beruf sind schwer nach außen hin zu vermitteln.
Renée Fleming, Sophie Koch, Diana Damrau … Einfach großartig, dieses Terzett hier, und doch erlebt man solche Momente selten, in denen die eigene Stimme zusammen mit derjenigen der Kollegin schwingt. Das ist dann das reine Glück, wenn das eigene Vibrato mit dem Vibrato eines anderen zusammenfindet. Selbst der narzisstischste Star wünscht sich dieses musikalische Erlebnis. Die absolute Verschmelzung aller Stimmen auch mit dem Orchester macht glücklich. Ich hätte jetzt in Wien an der Staatsoper die Arabella singen dürfen, habe mich besonders auf das Duett mit Zdenka gefreut. (als die ersten Töne des neuen Stücks erklingen) Ach, da haben Sie sie ja …!
Elisabeth Schwarzkopf? Dann kann das nur Anny Felbermeyer sein. Die beiden Stimmen und auch ihre Art zu singen passen so gut zusammen. Sie klingen wie Schwestern, die sie ja in der Oper auch sind, sie sind super gecastet und auch vom Alter her nicht so weit auseinander wie in anderen Produktionen. Man kann sie manchmal gar nicht voneinander unterscheiden. Wie vorhin schon gesagt hätte ich im November an der Wiener Staatsoper als Arabella debütieren dürfen, meine Zdenka wäre Jane Archibald gewesen. Wegen Corona wurde die Aufführung abgesagt. Das tat sehr weh.
Album-Tipp
Termine
Hanna-Elisabeth Müller, Paolo Taballione, Giorgi Gvantseladze, Andreas Schablas, …
Mozart: Konzert für Flöte und Harfe C-Dur KV 299, Sinfonia concertante Es-Dur KV 297b, Konzertarie KV 528 & Sinfonie Nr. 38 D-Dur KV 504 „Prager“
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Hanna-Elisabeth Müller, Stefan Schilli, Frederike Jehkul-Sadler, Magdalena …
Werke von Pasculli, Yun & Jolivet
Hanna-Elisabeth Müller, Kirill Gerstein, Gewandhausorchester, Andris Nelsons
Adès: In Seven Days, Sibelius: Luonnotar op. 70 & Sinfonie Nr. 5 Es-Dur op. 82
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Mozart: Idomeneo
Pavol Breslik (Idomeneo), Hanna-Elisabeth Müller (Elettra), Jonas Hacker (Arbace), Antú Romero Nunes (Regie)
Mozart: Idomeneo
Pavol Breslik (Idomeneo), Hanna-Elisabeth Müller (Elettra), Jonas Hacker (Arbace), Antú Romero Nunes (Regie)
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Rezensionen
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Blütenvielfalt statt Kuschelromantik
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