Oft spricht man von einem Monolithen, wenn von der umfangreichsten und am stärksten besetzten barocken Passionsvertonung die Rede ist. Wenn Philippe Herreweghe und das Collegium Vocale Gent Bachs „Matthäus-Passion“ am Gründonnerstag im Großen Saal der Elbphilharmonie klangveredeln, strafen der sechsundsiebzigjährige Flame und seine hervorragenden Sänger und Musiker diese leicht dahingesagte Analogie Lügen. Bei ihnen verliert der Monolith seine Erdenschwere, beginnt zu schweben wie getragen von himmlischer Hand.
Herreweghe zielt nicht auf Pathos und Überwältigung, sondern auf die klare Ausdeutung von Strukturen, die beredte Kraft barocker Figuren und den natürlichen Fluss der Musik. Verlassen kann er sich dabei auf seine in zwei Orchester aufgeteilten, mit Originalinstrumenten ausgestatteten Musikerinnen und Musiker ebenso wie auf die beiden zwölfköpfigen Chöre, die – unterstützt von acht Sopransängerinnen – den dialogischen Charakter der Passion unterstreichen, der in der Elbphilharmonie auch seitlich des Podiums akustisch noch gut zum Tragen kommt.
Starke Riege von Gesangssolisten
Erstklassig präsentiert sich auch die Riege der auf die beide Chöre verteilten Gesangssolisten. Von den Countertenören William Shelton und Hugh Cutting entzündet vor allem letzterer immer wieder Fanale stimmlicher Klangschönheit, wobei viele Konsonanten in den Publikumsreihen nicht ankommen und man in der Altarie „Buß und Reu“ leider nur andeutungsweise hört, wie das Sünderherz „entzwei knirscht“. Dafür ringt Cutting der ergreifenden Arie „Erbarme dich“ eine so schlichte Schönheit ab, dass die Zeit minutenlang stillzustehen scheint. Dorothee Mields’ beweglicher Sopran findet in der Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ zu großer Innerlichkeit, kann sich aber in ihrer Tragfähigkeit nicht immer gegen die begleitenden Instrumente behaupten. Zwei Baritone mit viriler Stärke und schöner Kontur entfalten Philipp Kaven als Pilatus und Konstantin Krimmel als Petrus, während Florian Boesch mit seinem standfesten, fordernden Bassbariton keinen weltabgewandten Heiligen, sondern einen Jesus aus Fleisch und Blut vor unser Ohr stellt.
Julian Prégardien begeistert als Evangelist
Mit fein ausdifferenzierten Chorälen, herzgreifenden Arien und wilden „Turba“-Chören, in denen das Volk Galle, Gift und Spott spuckt, wird an diesem Abend Jesus verraten, gekreuzigt und begraben. Dabei hat vor allem ein Mann das Wort, und er ergreift es so textakkurat, musikalisch hellhörig und klug ausbalanciert zwischen erzählendem Ton und innerer Anteilnahme, dass man nur staunen kann: Nicht ohne Grund wallte bei den stehenden Ovationen am Schluss ein besonderer Jubel für Tenor Julian Prégardien auf, der hier den Evangelisten gab.