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Brucknerjahr: Bruckner-Einspielungen 2024

Bruckners Klangwelt auf dem Seziertisch

Das Bruckner-Jahr 2024 wirft mit neuen Zyklen von Christian Thielemann und Andris Nelsons große Schatten voraus. Zugleich nähert sich die Weltersteinspielung aller Sinfonien auf der Orgel ihrem Abschluss.

vonJan-Hendrik Maier,

Als „hochintelligente Musik, in der mehrere Relativitätstheorien verborgen sind“ bezeichnete Herbert Blomstedt einmal die Sinfonien Anton Bruckners. Pünktlich zum bevorstehenden Jubiläumsjahr haben mit dem Gewandhausorchester und den Wiener Philharmonikern zwei in besonderer Weise mit dem Komponisten verbundene Klangkörper diese neu und überwiegend in Live-Mitschnitten ausgeleuchtet.

Wiener Premiere

Während man in Leipzig mit Andris Nelsons zwischen 2016 und 2021 zum dritten Mal nach Blomstedt und Kurt Masur alle neun nummerierten Sinfonien mit einem einzelnen Dirigenten eingespielt hat, präsentieren die Wiener unter Christian Thielemann, zumindest diskografisch, ihren ersten vollständigen Bruckner-Zyklus. Dabei erschlossen sie mit der „Studiensinfonie“ und der „Annullierten“ zugleich für beide Seiten neues Repertoire. Denn weder der ausgewiesene Spezialist am Pult noch die mit mehr als 900 Bruckner-Aufführungen in den letzten 150 Jahren durchweg erprobten Philharmoniker hatten beide Werke zuvor realisiert. Scheint aus der „Studiensinfonie“ noch deutlich der Einfluss Mendelssohns und Schumanns durch, zeugt die „Annullierte“ mit ihren motivischen Experimenten, der ungeahnten Virtuosität und erstaunlichen Modulationen von Bruckners Ideenreichtum. Als lohnend, da ungewohnt für den Zuhörer, erweist sich auch der Verzicht auf die monumentale Dramatik späterer Sinfonien. „In ihrem Temperament und ihrer Spritzigkeit steht sie der Ersten in nichts nach“, sagt Nelsons.

Schöpft persönlich Kraft aus den Sinfonien Anton Bruckners: Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons
Schöpft persönlich Kraft aus den Sinfonien Anton Bruckners: Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons

Leipziger Verbindungslinien zwischen Bruckner und Wagner

Der Gewandhauskapellmeister koppelt seinen Bruckner-Zyklus mit Auszügen aus Wagner-Opern. Der „dem lieben Gott“ gewidmeten Neunten geht etwa das „Parsifal“-Vorspiel voran, auf die Vierte stimmt der Anfang des noch romantischen „Lohengrins“ ein und Siegfrieds Trauermarsch aus der „Götterdämmerung“ lässt an das Adagio in der nachfolgenden Siebten denken. Liegen die evozierte Atmosphäre und der Bedeutungsgrad, den man solchen Querverweisen beimisst, freilich im Ermessen des Zuhörers, so wirft Nelsons mit den Beistellungen zweifelsohne Schlaglichter auf die Bewunderung Bruckners für Wagner. Der lettische Dirigent selbst begründet das Konzept mit der Tradition des Gewandhausorchesters als führenden Wagner-Interpreten. Ihr Schwergewicht in der Bruckner-Rezeption erlangten die Leipziger indes mit der Uraufführung der Siebten, die dem damals sechzigjährigen Komponisten erst die internationale Anerkennung als Sinfoniker bescherte, sowie dem ersten Sinfonien-Zyklus überhaupt unter Arthur Nikisch 1919/1920. Spätere Kapellmeister begannen und beschlossen ihr Amt mit Bruckner.

Nelsons Zugang zu dem Romantiker fußt auf dem spirituellen Gehalt seiner Musik, die wie eine „Pilgerreise zu Gott“ zu sei. Der tiefkatholische Bruckner verhandle immer wieder Fragen nach dem Sinn des Lebens und des Sterbens, suche permanent Hoffnung und Orientierung. Die menschliche Seite klingt in den volksliedhaften Melodien der rustikalen Scherzos an. „Mir gibt diese Musik eine Kraft und eine Zuversicht, die ich in meinem Leben nicht missen möchte“, sagt Nelsons. Charakteristisch für seine Bruckner-Lesart ist das Herausarbeiten einzelner kleiner Höhepunkte innerhalb der Sätze. Da werden individuelle Pausen gesetzt, gedehnt und neue Übergänge geschaffen, was der Musik große Dynamik verleiht, zuweilen aber an der Gesamtkonstruktion der Sinfonie rüttelt. Der Leipziger Klang besticht dabei durch seine Grundwärme, den kräftigen, manchmal regelrecht swingenden Bässen und dem scharfen Blech.

Fühlen sich Bruckner seit jeher verbunden: Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker
Fühlen sich Bruckner seit jeher verbunden: Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker

Große Architektur im Fokus

„Ich glaube, sogar ein Agnostiker kann sich Bruckner nicht entziehen“, sagt Thielemann. Seit einer Aufführung der Fünften unter Herbert von Karajan in den siebziger Jahren, nach der er „benebelt von dem Choral über den Parkplatz getaumelt“ sei, begleitet ihn die Musik des Österreichers. In ihr fühle er sich zu Hause, besonders die langsamen Sätze der Sinfonien habe er schon immer geliebt. Dass er großen Wert auf die übergeordnete Architektur und die großen Linien legt, zeigt sich durchweg im Spiel der Wiener Philharmoniker. Minutiös tariert er den Klang des Ensembles aus, lässt die Streicher silbrig glänzen und die Bläser dunkle, satte Kontraste setzen. Bei all dem kommt die Transparenz in Bruckners dichtem Kontrapunkt nicht zu kurz. Thielemann kostet die der Musik innewohnende Dramatik an vielen Stellen intensiv aus und scheut gelegentlich nicht vor Pathos. Dass die Sinfonien trotz dieses überwiegend getragenen Ansatzes nicht in Statik verharren und in dynamischer Hinsicht auch in den letzten Takten noch etwas in petto haben, macht Thielemanns Pultzauber aus.

Hansjörg Albrecht beleuchtet Bruckners Musik an der Orgel neu
Hansjörg Albrecht beleuchtet Bruckners Musik an der Orgel neu

Sinfonische Blockbuster einmal anders

Erhellende Momente auf Bruckners Musik, dessen Bedeutung als Organist und die wenig rezipierte europäische Dimension seiner Biografie beschert Hansjörg Albrecht mit der weltersten Orgeleinspielung aller elf Sinfonien, an Orten, die repräsentativ für das jeweilige Werk oder die Umstände seiner Entstehung sind. Die in London aufgenommene Zweite verweist etwa auf Bruckners Gastspiel als gefeierten Improvisator in der Themsestadt vor insgesamt 70.000 Menschen im April 1871. Zudem sind Luzern, Zürich, Linz, Wien, Leipzig, München und Paris vertreten. Aus Albrechts Sicht eröffneten die Transkriptionen den Kosmos der Brucknerschen „Klangwerkstatt“ und machten manche Phänomene deutlich sichtbar, darunter den gemeinhin erst mit der Minimal Music des 20. Jahrhunderts assoziierten Einsatz von Patterns. „Es ist so, als ob man die Sinfonien auf den Seziertisch legt. Sie erhalten ein anderes Klanggewand.“

Zwei bis drei Nächte gehe er vor einer Einspielung die Sinfonie Takt für Takt durch auf der Suche nach dem geeigneten Klangabbild der mitunter „viel zu feinfühligen“ Orchesterpartitur. Bis zu tausend verschiedene Registrierungen kämen so für ein Stück zusammen. „Bruckner hat riesige, teils schwer verdauliche Blockbuster gesetzt, doch es ist großartigste Musik.“ Bis Mai 2024 soll der Zyklus, der unter der Schirmherrschaft von Christian Thielemann steht, abgeschlossen und dann auch live im Konzert zu erleben sein. Zudem ist eine abendfüllende Dokumentation über Bruckner und die Orgel in Planung.

Album-Tipp

Album Cover für
Bruckner: Sinfonien Nr. 0-9, Werke von Wagner Gewandhausorchester, Andris Nelsons (Leitung) Deutsche Grammophon

Album Tipp

Album Cover für Bruckner: Sämtliche Sinfonien

Bruckner: Sämtliche Sinfonien

Wiener Philharmoniker, Christian Thielemann (Leitung) Sony Classical

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