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100. Todestag Camille Saint-Saëns

Unterschätztes Gesamtschaffen

Vor hundert Jahren starb der Komponist Camille Saint-Saëns in Algier.

vonRoland H. Dippel,

In seiner Hommage an die Sängerin Pauline Viardot berichtete Camille Saint-Saëns, wie diese ihm das Verständnis von Frédéric Chopin eröffnet habe. Dessen Kompositionen seien weder von „kalter Korrektheit“ noch von „geschmacklosem Manierismus“ geprägt, entkräftete Saint-Saëns. Das sind ähnliche Attribute, wie sie dem am 16. Dezember 1921 in Algier mit 86 Jahren verstorbenen Komponisten, Kritiker, Herausgeber und Organisten in der zweiten Hälfte seines langen Lebens selbst getroffen hatten. In der klassischen Musik kommt es nur selten vor, dass bei verhältnismäßig geringer Bekanntheit eines riesigen Œuvres die Vorurteile von Fortschrittsfeindlichkeit und akademischer Glätte so leichtfertig Verwendung finden wie bei Saint-Saëns.

Gewiss ist seine bekannteste Oper „Samson et Dalila“ ein seit fast 150 Jahren beliebtes Showpiece für Mezzosopran und Heldentenor, wenn wie in der Berliner Staatsoper Unter den Linden im Dezember 2021 Elīna Garanča und Andreas Schager auf der Bühne stehen. Auch seine Orgelsinfonie für London ist ein heute populärer Wurf. Aber überwiegend kreist Saint-Saëns‘ Popularität vor allem um den „Karneval der Tiere“ und den „Danse macabre“ in der Orchesterfassung, selbst wenn die Urfassung als Lied auf Verse von Henri Cazalis mit Interpreten wie Thomas Hampson mindestens ebenso eindringlich ist.

Das Opernschaffen von Saint-Saëns bietet allerhand Überraschungen

Seit November steht am Opernhaus Dortmund in Kooperation mit Palazzetto Bru Zane, Zentrum für französische Musik der Romantik, die von Ernest Guiraud begonnene, von Paul Dukas weitgehend instrumentierte und dann von Saint-Saëns vollendete Oper „Frédégonde“ auf dem Spielplan. Das 1895 an der Pariser Oper uraufgeführte Werk setzte den Gestus der durch Gounod und Massenet weicher gewordenen Grand opéra fort. Tatsächlich handelt es sich bei der machtgierigen Frédégonde und ihrer Rivalin Brunehilde um poetische Nachbildungen jener historischen Personen aus der merowingischen Geschichte, in denen die Literaturwissenschaft Vorbilder für die beiden zentralen Frauengestalten des „Nibelungenliedes“ erkennen wollte.

Auch sonst bietet Saint-Saëns‘ Opernschaffen allerhand Überraschungen. Bei der vor Kurzem in Toulouse unter Leo Hussain aufgenommenen „La princesse jaune“ bemäkelten Uraufführungskritiken den Mangel an asiatischem Kolorit. Dabei spielte das einnehmende Opus nicht in Asien, sondern in Europa und handelt von Wunschträumen eines jungen Mannes, der beim anderen Geschlecht keinen Erfolg hat. Und „Le timbre d’argent“ geriet zur faszinierenden Entdeckung, weil da die Figurenkonstellation Mann/Dämon/Frau(en) auf qualitativ ebenbürtiger Ebene vorkommt wie in Gounods „Faust“ und Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“.

Der große klassische Geist

Überhaupt ist Saint-Saëns‘ Vokalschaffen erstaunlich farb- und facettenreich. Wer weiß schon, dass er neben Fauré und Massenet zu den besten Lied-Komponisten Frankreichs gehört, wie Einspielungen mit Tassis Christoyannis und François Le Roux auf verführerische Weise bestätigen. Die Kleinode zeigen, wie hervorragend Saint-Saëns mit Stimmen umgehen konnte.

Den „großen klassischen Geist“ und die „hohe enzyklopädische Musikkultur“ habe der Bewunderer von Hector Berlioz und Gesinnungsgenosse von César Franck auf für Frankreich ungewöhnlich professionellem Niveau verkörpert, schrieb Romain Rolland 1901 über Saint-Saëns. Das gilt ebenso für dessen letzte Oper „L’Ancêtre“ („Die Vorfahrin“), deren Aufführung an der Bayerischen Theaterakademie 2019 ein riesiger Erfolg wurde. Nicht zuletzt gelang Saint-Saëns als Organist der Pariser Kirche La Madeleine 1858 im Alter von nur 23 Jahren mit seinem Oratorio de Noël das beliebteste Werk zum Christfest seit Bach. Das kompositorische Vermächtnis des pianistischen Wunderkinds mit dem zerrissenen Privatleben ist damit aber noch lange nicht erschöpft.

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