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Blind gehört Anna Lucia Richter

„Das ist ja fast mono!“

Anna Lucia Richter hört und kommentiert Aufnahmen, ohne dass sie weiß, wer singt.

vonJakob Buhre,

Während sich manche Menschen in der Pandemie-Zeit gedanklich oder beruflich neu orientierten, hat Anna Lucia Richter es stimmlich getan: Die Solistin nutzte die konzertfreien Monate, um ihren Wechsel vom Sopran- ins Mezzo-Fach zu vollziehen. Doch ganz gleich, welche Stimmlage gerade erklingt: Richter zeigt sich beim kritischen Kommentieren stets respektvoll gegenüber ihren Kolleginnen und Kollegen.

Mahler: Sinfonie Nr. 4 – 4. Satz

Genia Kühmeier (Sopran), Münchner Philharmoniker, Valery Gergiev (Leitung)
Münchner Philharmoniker (2017)

Für einen Moment dachte ich, dass die Stimme wie die von Edith Mathis klingt, aber es scheint mir eine neuere Aufnahme zu sein. Ein lyrischer Sopran, dessen Tiefe auch schlanker ist als der von Mathis, in der Höhe leuchtet er. Hier, die Stelle „Sankt Peter im Himmel sieht zu“. Das ist einer der schwierigsten Takte. Das setzt sie sehr glockig an, mit ein wenig Vibrato, weshalb es sehr rein klingt – beeindruckend! Ich finde, sie hat eine sehr schöne Klangfarbe, die sie durch die gesamte Partie beibehält. Vielleicht hätte man bei „Sankt Martha“ oder bei der Stelle, in der es um den Wein geht, die Farbe noch etwas anpassen können. Aber das ist eine rein künstlerische Entscheidung, die oft auch in Absprache mit dem Dirigenten gefällt werden muss. Ich hätte die Vermutung, das könnte Genia Kühmeier sein. Wir haben vor ein paar Jahren bei einer Konzertreihe mit Gergiev die Partie abwechselnd gesungen. Das Schwierige an diesem Stück ist ja, dass man dafür eigentlich zwei Stimmen braucht: für den ersten Teil einen eindeutigen Sopran und für den zweiten fast einen Mezzo. Nachdem ich jetzt ins Mezzo-Fach gewechselt bin, werde ich die Partie nicht mehr singen. Es ist eines meiner absoluten Lieblingsstücke, aber nach fast fünfzig Aufführungen habe ich auch eine Vorstellung von dieser Partie entwickelt, die sehr sopranig ist. Kühmeier ist dafür wirklich wie gemacht.

Schubert: Der Musensohn D 764

Lieder von Abschied und Reise
Christoph Prégardien (Tenor), Michael Gees (Klavier)
EMI (1996)

Das ist Christoph Prégardien. Vermutlich mit Michael Gees? Ja, eindeutig Gees am Klavier, das höre ich daran, wie er bestimmte Gegenlinien rausholt und sich nicht versteckt. Das ist seine Spezialität, dass er genau spürt, wo er vom Klavier aus zu dem Lied noch mehr beitragen kann. Die beiden spielen unglaublich mit dem Tempo, verzögern teilweise auch mitten im Satz. Wow, hier war es sogar fast eine Fermate! Und trotzdem schaffen sie es, dass der Puls des Stücks nicht verloren geht. Ich habe selbst schon oft mit Michael gesungen und mag es sehr, wie er mit einem Dinge riskiert und den Mut hat, an Grenzen zu gehen. Man kann mit ihm sehr gut die Texte in den Vordergrund stellen, nicht nur mit Dynamik, sondern auch agogisch, zum Beispiel wenn man sich Zeit nimmt für bestimmte Konsonanten: Wenn man ein „sch“ von „Schweigen“ schon kurz vor der eigentlichen Note beginnt, damit der Ton auf der Zeit entstehen kann. Für so etwas braucht es viel Aufmerksamkeit vom Pianisten.

Monteverdi: Addio Roma aus „L’incoronazione di Poppea“

Magdalena Kožená (Mezzosopran), La Cetra Barockorchester Basel, Andrea Marcon (Leitung)
Archiv Produktion (2016)

Das ist unglaublich schön! Und extrem, wie viel Zeit sie sich nehmen. Fantastisch, wie die Sängerin in die Sprechstimme wechselt. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es ein Mezzo ist oder ein Sopran mit sehr guter Tiefe. Vielleicht ist es Magdalena Kožená? Sie hat eine gute Mittellage, kann aber auch in der Höhe spielen. Manchmal singt sie die Töne direkt an und entwickelt dann ein Vibrato daraus, was für die alte Musik perfekt ist. Daran habe ich sie jetzt auch erkannt. Ihre Stimme klingt hier unglaublich jung, aber wenn sie das 2016 aufgenommen hat – da war sie ja keine dreißig mehr! Das zeigt, dass sie eine fantastische Technik hat. Ich finde, man merkt hier auch, wie nah sich Monteverdi und Neue Musik sind, zwei Extreme, die Kožená beide bedient. Ihre Textbehandlung gefällt mir sehr gut, wie sie von der Singstimme ins Sprechen, ja fast ins Flüstern wechselt. Das sind Dinge, die sowohl bei Monteverdi als auch in der Neuen Musik immer wieder gefragt sind.

J. S. Bach: Blute nur, du liebes Herz (Matthäus-Passion)

Elisabeth Schwarzkopf (Sopran), Philharmonia Orchestra, Otto Klemperer (Leitung)
EMI (1961)

Eine sehr alte Aufnahme, das hört man vom ersten Ton an. Dieses Legato und wie die tieferen Streicher auf den Noten vibrieren, das ist sehr altmodisch. Die Stimme kenne ich, das ist doch Elisabeth Schwarzkopf, oder? Bach war nicht ihr Kernrepertoire, aber man hört auch hier ihre wahnsinnig glockige, gutturale Höhe, wie sie zum Beispiel für eine Donna Anna sehr gut geeignet ist. Den Triller, den sie hier bis zum letzten Moment der Note singt, das würde man heute sicher anders machen und nur den Anfang des Tons trillern. Oder ihr Legato, dass sie die Seufzer-Motive kaum rausholt, auch dass das Orchester genauso die Linien alle ganz durchspielt, ist heute bei Bach eher verpönt. Aber man muss immer aufpassen, so etwas nicht zu verurteilen, wenn man alte Aufnahmen hört. Der Zeitgeschmack und die Aufführungspraxis haben sich bei Bach in den letzten fünfzig Jahren enorm verändert. Zum Beispiel verehre ich Fritz Wunderlich sehr, aber seine h-Moll-Messe aus den fünfziger Jahren kann ich mir nicht anhören, weil es so weit weg davon ist von dem, wie es heute üblich ist.

Britten: The Trees They Grow So High

Sarah Brightman (Sopran), Geoffrey Parsons (Klavier)
EMI (1988)

Das ist ein englischer Folksong. Auf meiner allerersten CD habe ich den in einer Fassung von Britten gesungen. Aha, das hier ist auch die Britten-Version, aber diese Aufnahme kenne ich nicht. Zwischendurch könnte man denken, es singt ein Knabe, aber es ist eine Frau. Für mich klingt es, als wenn sie keine rein klassische Gesangsausbildung hat, so wie sie einige Töne von unten oder oben ansingt, wobei das gut zu diesem Volksliedcharakter passt. Eine unglaublich helle Stimme, vom Fach her Koloratursopran. Ach, das ist Sarah Brightman? Dann verstehe ich auch, warum sie in der unteren Lage fast nicht stützt. Denn wenn sie vom Musical und Crossover kommt, ist sie es eher gewohnt, mit Mikrofon zu singen. In einem Saal ohne elektronische Verstärkung würde das aber vermutlich nicht weit über die ersten Reihen hinaus tragen.

Wolf: „Auch kleine Dinge können uns entzücken“ / „Man sagt mir, deine Mutter woll es Nicht“ aus dem Italienischen Liederbuch

Diana Damrau (Sopran), Helmut Deutsch (Klavier)
Erato (2019)

Das ist auf jeden Fall jemand, der viel Oper singt. Sie geht sehr früh in die Bruststimme, was dafür spricht, dass sie eher ein höherer Sopran ist. Ist das vielleicht Ruth Ziesak? Die Aufnahme hat erstaunlich viel Hall, da kann man es schwieriger erkennen. Das Klavier ist mir von der Balance her etwas zu unterbelichtet, gerade beim „Italienischen Liederbuch“ hat es ja einen sehr eigenständigen Part. Eine Live-Aufnahme, sagen Sie? Das erklärt das natürlich. Wer spielt Klavier? – Aha, Helmut Deutsch. Ja, er hält sich als Liedbegleiter gerne zurück und stellt sich nicht ins Rampenlicht. Das könnte dann die Aufnahme mit Jonas Kaufmann und Diana Damrau sein. Ich finde, Hugo Wolf hat innerhalb es Lied-Repertoires immer noch einen besonderen Stellenwert. Für mich entsteht die Musik bei ihm zu hundert Prozent aus dem Gedicht, weil er sich sehr an der Sprachmelodie orientiert. Das hätte ich persönlich bei diesen Liedern noch mehr herausgekitzelt. Da kommt es weniger darauf an, dass man besonders große Linien zeigt oder ein schönes Pianissimo singt, sondern dass man eine Antwort darauf findet, worum es in dem Text geht und warum Wolf ihn genau so vertont hat. Aber das „Italienische Liederbuch“ live im Konzert aufzuführen ist immer eine extrem große Herausforderung. Nicht nur sind die Lieder alle technisch sehr anspruchsvoll und vor allem für die Frauenstimme oft nah an der Hysterie. Auch muss man quasi alle vierzig Sekunden komplett umschalten in neue Emotionen, neue Interpretationen.

Britten: Recession aus „A Ceremony of Carols“

Mädchenchor Hannover, Gudrun Schröfel (Leitung)
Rondeau Production (2015)

Harfe und Frauenstimmen? Das müsste die „Ceremony of Carols“ von Britten sein. Die habe ich früher im Mädchenchor am Kölner Dom oft mitgesungen. Sehr schön, wie sie hier ins Piano gehen. Sind das die Hannoveraner? Die haben mittlerweile eine unglaubliche Qualität, einer der besten Mädchenchöre überhaupt! Ich habe sie mehrmals bei Chortreffen gehört, für mich hatten sie immer einen dunkleren Klang als wir am Kölner Dom. Leider werden die Mädchenchöre bis heute viel weniger gefördert als die Knabenchöre, deshalb gibt es auch so wenig. Für mich war es eine wunderbare Ausbildung, bestimmte Basics lernt man in der Kindheit viel leichter, zum Beispiel das Blattsingen, sprich: dass man neue Noten in die Hand bekommt und sich sofort orientieren kann. Oder auch, dass man lernt, sich in einen Gruppenklang einzufügen. Das hilft mir heute, wenn wir auf der Opernbühne im Quartett oder Sextett singen.

Brahms: „Röslein dreie in der Reihe“ // „His Name so sweet“ (Spiritual)

Leontyne Price (Sopran), David Garvey (Klavier)
BMG (1965/2002)

Sehr alte Aufnahme, wahnsinnig trockener Klang. Das ist ja fast mono! Guter Pianist. Und es ist schon mal keine deutsche Sängerin. „Schönstes Städtchen“ ist für Nicht-Muttersprachlerinnen ein gemeiner Zungenbrecher (lacht). Unglaublich, wie hier ab dem zweigestrichenen D ein Glanz in die Stimme kommt und darunter etwas Samtiges ist. Man hört plötzlich, dass die Stimme eigentlich sehr groß ist, hört, wie sie aufmachen kann. Sie stützt ziemlich tief, hat immer die Bruststimme als Basis drunter. Aha, jetzt singt sie ein Spiritual, dann ist es vielleicht Kathleen Battle. Oder Jessye Norman? Es ist jedenfalls eine afroamerikanische Sängerin, denke ich. Sie haben erstens häufiger das Glück, einen größeren Resonanzraum zu haben, weil die Wangenknochen ein bisschen höher und stärker ausgebildet sind, und zweitens klingt es hier nach amerikanischer Gesangstechnik. Ich höre hier, dass sie die die Resonanzräume im Kopf wahnsinnig gut nutzen kann. Ach, das ist Leontyne Price? – Da war sie aber noch jung!

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