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Blind gehört Riccardo Minasi

„Ob ich es mag? Darauf kann ich nicht antworten“

Dirigent und Violinist Riccardo Minasi hört und kommentiert Aufnahmen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonSusanne Bánhidai,

Im Bunker an der Feldstraße im Hamburger Stadtteil St. Pauli macht es sich ein gut gelaunter Riccardo Minasi zwischen den Proben mit dem Ensemble Resonanz auf dem alten Sofa bequem. Beim Hören der geheimen Playlist offenbart er Humor, feinsinniges Gehör und Versessenheit bei der Suche nach dem richtigen Tempo. 

Mozart: Sinfonie Nr. 36 C-Dur „Linzer“ – IV. Presto

Columbia Symphony Orchestra, Bruno Walter (Ltg.)
Sony 2011

Ich höre einen Wiener Einschlag bei der Oboe, also ist es ein Wiener Orchester! – Nein? Noch nicht mal europäisch? Das überrascht mich. Es ist natürlich das Presto der „Linzer“ Sinfonie von Mozart, wobei es sich nicht wirklich anhört wie ein Presto. Durch die hochfrequenten Betonungen verliert es ein bisschen an Anmut. Für meine Ohren ist die Prosodie nicht stimmig. Ich meine, es sollte in größeren Phrasen gedacht werden. Ich würde auf eine Aufnahme aus den sechziger Jahren tippen. Die Streicher klingen gestochen scharf – vielleicht ein amerikanisches Orchester? – Ah, das Columbia Orchestra unter Bruno Walter. Da bin ich ja noch überraschter, denn ich dachte, diese Aufnahme gut zu kennen. Ich habe diese Ausgabe sogar zu Hause, als Bonusmaterial war der Mitschnitt einer Probe mit darauf. Da merkt man, wie penibel er war. Fast zehn Minuten blieb er in einem Takt stecken und stoppte nach fast jedem Ton.

Bellini: Norma

Cecilia Bartoli, John Osborn, Sumi Jo, Michele Pertusi, Orchestra la Scintilla, G. Antonini (Ltg)
Decca 2013

Die Flöte spielt ohne Vibrato. Es gibt nicht so viele Aufnahmen dieses Repertoires mit Holzflöten. Das könnte dann die mit Cecilia Bartoli sein. Für diese Aufnahme auf der Basis der kritischen Ausgabe von Bärenreiter habe ich das Notenmaterial zur Verfügung gestellt. Meine erste Begegnung mit Cecilia war in Dortmund als Konzertmeister bei ihrem Rollendebüt mit Thomas Hengelbrock. Cecilia ist ein Genie, aber sie hatte vor dieser Partie selbstverständlich auch großen Respekt. Nicht, weil sie technische Schwierigkeiten gehabt hätte. Man kann sie nachts wecken und sie singt diese Arie. Die Musik ist aber nun mal sehr anspruchsvoll, unter anderem, weil es extrem lange musikalische Phrasen von bis zu zwölf Takten sind, die eine Sängerin gestalten muss! Meiner Meinung nach ist auch diese Arie zu langsam. Sie ist im 12/8-Takt geschrieben und ein Andante sostenuto assai, der metrische Akzent ist also alle vier Schläge. Wenn man es so sehr verlangsamt, landet man bei einem 6/8- oder sogar 3/8-Takt. Und es hätte mit mehr Rubato und weniger vertikalen Ansatz vorgetragen werden können. Die Begleitung darf im Metrum bleiben, aber darüber darf die Solistin ruhig ein bisschen schweben. Toll musiziert ist es allemal.

Gluck: Orphée et Eurydice – „J’ai perdu mon Eurydice“

Maria Callas, Orchestre National de France, G. Prêtre (Ltg.)
EMI 1962

La Divina! Wenn man über Maria Callas spricht, kommen oft viele Allgemeinplätze und abgedroschene Wörter hoch. Majestätisch, enorm oder „mastodontico“: „wie ein Mammut“. Dabei sang sie in Wahrheit raffiniert und inhaltlich durchdacht, ihre Stimme war beweglich und leicht. Manche sagen, sie hätte eine hässliche Stimme gehabt, die sie aber einzusetzen wusste. Wie bitte? Überhaupt nicht! Ich liebe ihre Stimme. Diese Gluck-Arie ist vielleicht nicht ihre Paraderolle. Ich finde die Interpretation auch zu langsam, das ist eine Gavotte, da braucht es mehr tänzerischen Impuls.

J. S. Bach: Violinkonzert Nr. 1 a-Moll BWV 1041 – I. Allegro moderato

Giuliano Carmignola, Concerto Köln
Archiv 2014

Oh, der Dirigent liebt Techno. Ist es Il Giardino Armonico mit Enrico Onofri? – Nein? Hm. Aber sind es italienische Musiker? Auch nicht? Concerto Köln mit Giuliano Carmignola, eine deutsche Gruppe mit einem italienischen Solisten. Darauf wäre ich nie gekommen. Ich mag dieses Ensemble, diese Aufnahme finde ich allerdings etwas zu mechanisch. So geht die kontrapunktische Struktur dieser Musik etwas unter. Es passiert ja so viel in den zweiten Violinen und den Bratschen. Das Tempo finde ich aber gut. Können wir das ­E-Dur-Konzert vom Album hören? – Sie spielen es im gleichen Tempo, schade! Das muss natürlich doppelt so schnell gespielt werden wie der 2/4-Takt des ersten Satzes im a-Moll-Konzert. So schreibt es Bach mit der Wahl des Metrums „Alla breve“ vor!

Vivaldi: Violinkonzert D-Dur RV 211 – III. Allegro

Nicola Benedetti, Benedetti Baroque Orchestra
Decca 2020

Das ist ein Vivaldi-Konzert. Meine Güte, die Gitarren kommen wohl direkt aus Sevilla! Ist das vielleicht Giuliano Carmignola? – Mann oder Frau? – Eine Frau. Ich habe im Hinterkopf, dass Nicola Benedetti mal ein Vivaldi-Album aufgenommen hat. Richtig, gut. Jetzt weiß ich auch, wer der Gitarrist ist: Ivano Zanenghi! Als ich mit ihm zusammenspielte, habe ich ihm für sein leidenschaftliches Spiel alle Freiheiten gelassen.

Beethoven: Violinkonzert D-Dur – III. Rondo

María Dueñas, Wiener Symphoniker, Manfred Honeck (Ltg.)
Deutsche Grammophon 2022

Das größte Problem mit dem Finalsatz des Violinkonzertes von Beethoven ist der Rhythmus. Das ist ja ein Daktylus, der archetypisch auf die Sphäre des Ländlichen verweist. Beethoven hat einen Dreier-Rhythmus vorgesehen. Wenn man es dann so binär spielt wie hier, verliert es diese Aussage. Er oder sie artikuliert auch so, als ob es eine Romanze wäre, aber es müsste tänzerischer gespielt werden. Über das Vibrato wundere ich mich, denn ich höre, dass das eine jüngere Aufnahme ist und ich einfach kaum Solisten kenne, die heute ein so altmodisches durchgängiges Vibrato verwenden. Dabei habe ich gar nichts gegen ein schönes Vibrato, tolle Intonation und herrliches Timbre. Es könnte María Dueñas sein. Ich bewundere sie und beobachte ihre künstlerische Entwicklung. – Ob ich es mag? Darauf kann ich nicht antworten. Ich habe mit Sicherheit andere Parameter für dieses Stück als sie. Es wäre großartig, Interpretationen nach rein objektiven Gesichtspunkten zu bewerten. Ich würde mich gerne mit ihr treffen und in einen Austausch über dieses Stück kommen. Dann könnte sie mir erklären, dass ich es völlig falsch verstanden habe!

Fischer: Le Journal du printemps, Suite Nr. 3 – VI. Chaconne

L’Orfeo Barockorchester, Michi Gaigg (Ltg.)
cpo 2007

Eine instrumentale Chaconne in B-Dur. Was könnte das sein? Ich glaube, ich kenne noch nicht mal den Komponisten. Die Basslinie ist ungewöhnlich. Ist es jemand aus dem deutschsprachigen Raum, der versucht, französisch zu klingen? Vielleicht Georg Muffat, der Deutsch-Franzose? –Johann Caspar Ferdinand Fischer, nie gehört. Aber ich lag richtig: ein Deutscher, der versucht, französisch zu klingen. Ein Franzose würde nie diese Basslinie komponieren! Wenn ich dieses Stück höre, rieche ich den Schwarzwald und sehe die Porta Westfalica vor mir, nicht Versailles. Hm, wenn das Orchester aus Österreich kommt, ist es entweder Martin Haselböck oder Michi Gaigg. Gut gemacht. Ich kenne sie nicht persönlich, schätze aber ihre Verdienste um Felix Mendelssohn und ihre Wiederentdeckungen von vergessenen Komponisten.

Porpora: Il verbo in carne

Kammerorchester Basel, Riccardo Minasi (Ltg.)
Sony 2018

Oje. Das ist die schlechteste CD, die ich zu Hause habe. Nicht die schlechteste Aufnahme, die ich gemacht habe, sondern buchstäblich die schlechteste Aufnahme, die ich im Haus habe. Es ist eine Live-Aufnahme und wir hatten zu wenig Zeit für Proben und Korrekturen. Ich bin immer sehr kritisch mit meinen eigenen Aufnahmen, aber bei dieser Aufnahme habe ich wirklich Schwierigkeiten. Es tut mir leid, das sagen zu müssen: Das Beste, was man mit dieser CD tun kann, ist Frisbee am Strand spielen. Dabei bin ich mit einigen meiner Alben auch ganz glücklich, zum Beispiel einige Aufnahmen mit Il pomo d’oro und die mit dem Ensemble Resonanz.

J. S. Bach: Weihnachts­­oratorium – „Jauchzet, frohlocket“

Ensemble Resonanz
resonanzraum records 2017

Das erkenne ich natürlich. Wir waren exakt in diesem Raum. Ich war nicht der musikalische Leiter, aber weil ich das Ensemble Resonanz gut kenne, haben sich mich um Rat gefragt. Und ich dachte, bei der Instrumentenkombination, ein Weihnachtsoratorium mit Synthesizer und Drums: warum ich? Da habe ich vorgeschlagen, das Tempo zu beschleunigen, bevor der Chor einsetzt. Wie eine kleine Kaskade. Als ich die Aufnahme dann gehört habe, war ich schockiert. Das ist zu viel! Das sind die Niagara-Fälle!

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