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Blind gehört Nemanja Radulović

„Huch, was ist das denn?“

Der Geiger Nemanja Radulović hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonHelge Birkelbach,

Berlin, Gendarmenmarkt. Gleich gegenüber dem stolzen Konzerthaus nimmt das feudale Hotel, in dem der serbische Musiker residiert, die volle südliche Breitseite des Platzes ein. Eine Lounge sei reserviert, sagte der PR-Mann. Züngeln Flammen neben dem Thron des Teufelsgeigers auf? Werden Blitze den Blick verstellen? Fast ist es wie bei „Der Zauberer von Oz“: Plötzlich, ganz unbemerkt, taucht Nemanja Radulović neben der Tür zur Kaffeebar auf. Freundlich weist der junge Mann mit der freiheitsliebenden schwarzen Mähne den Weg. Er setzt seine Brille auf. Es kann losgehen.

Album Cover für Schostakowitsch: Violinkonzert Nr. 1

Schostakowitsch: Violinkonzert Nr. 1

Hilary Hahn, Oslo Philharmonic Orchestra, Marek Janowski (Leitung)
Sony Classical 2002

Ganz klar: Hilary Hahn! Denn das ist meine Lieblingsaufnahme. Was ich daran so mag, ist ihre Authentizität. Ihr Ausdruck, ihr Vibrato ist wirklich einzigartig. Man kann sie sofort erkennen. In dem zweiten Satz steckt so viel Lebendigkeit, man spürt geradezu die Freude. Die Tempi bei Hilary sind ganz anders als bei anderen Interpreten. Ich kann gar nicht objektiv sagen, wie ich das im Unterschied zu ihr spiele. Es hängt immer von dem Moment ab, wie man sich gerade fühlt. Auch wenn ich eine genaue Vorstellung habe, wie ich etwas spielen will und das probe, kann man ja nie wissen, ob man im speziellen Moment dieses Feuer und diesen Enthusiasmus hat oder das Innere gerade viel tiefer abtaucht … In jedem Fall: Treffer! Das war einfach!

Album Cover für Tschaikowsky: Violinkonzert D-Dur

Tschaikowsky: Violinkonzert D-Dur

Joshua Bell, Berliner Philharmoniker, Michael Tilson Thomas (Leitung)
Sony Classical 2005

Hier spielt ein Mann, oder? Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte. Das Orchester legt ein ganz schönes Tempo hin, wie ein Schnellzug. Den Tschaikowsky habe ich auf meinem vorletzten Album eingespielt, mit dem Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra. Joshua Bell ist das? Er hält hinsichtlich des Tempos gut mit.

Album Cover für Tschaikowsky: Variationen über ein Rokoko-Thema

Tschaikowsky: Variationen über ein Rokoko-Thema

Nemanja Radulović (Viola), Stéphanie Fontanarosa (Klavier)
Deutsche Grammophon 2017

Rokoko. Das bin ich! (lacht) Das Stück kenne ich seit meiner Jugend. Es ist ein Arrangement für Viola, Streichensemble und Klavier. Meine Schwester spielte Cello, sie übte diese Variationen für ihr Examen. Weil ich auch gerne Viola spiele, habe ich mich mit dem Arrangement von Yvan Cassar beschäftigt und es schließlich auch aufgenommen. Für Viola verlangt das Stück eine etwas andere Herangehensweise als für Cello: andere Tempi, anderer Stil. Es ist inniger, romantischer als die Version für großes Orchester. Am Klavier hören wir übrigens Stéphanie Fontanarosa, mit der ich schon seit langem zusammenarbeite. Ihr Vater war mein Lehrer.

Album Cover für Chatschaturjan: Violinkonzert

Chatschaturjan: Violinkonzert

Nemanja Radulović, Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra, Sascha Goetzel (Leitung)
Deutsche Grammophon 2018

Aram Chatschaturjan. Sehr eindrucksvolles Orchester! (überlegt) Das bin ja noch mal ich! Ich liebe es, mit diesem Orchester zusammenzuarbeiten. Wir haben einen wunderbaren gemeinsamen Klang gefunden. Ich wollte unbedingt, dass sie auch bei „Baïka“ dabei sind, meiner letzten Aufnahme. Ich kam anfangs nicht darauf, weil sie wirklich ein riskantes Tempo hinlegen, so voller Leben.

Brahms: Ungarische Tänze Nr. 7 A-Dur

Anne-Sophie Mutter, Lambert Orkis (Klavier)
Deutsche Grammophon 2003

Ich würde sagen: Maxim Vengerov. Nein? Dann muss es Anne-Sophie Mutter sein. Ich dachte sofort an sie, musste aber kurz überlegen. Manchmal sind die beiden nicht zu unterscheiden, so ähnlich klingt ihr Spiel. Zum Beispiel bei den Glissandi. Ich mag diesen Ausdruck, sie ist genauso authentisch wie Hilary Hahn, jedoch auf eine ganz andere Weise. Anne-Sophie Mutter ist es egal, was ihr Publikum denkt. Sie riskiert so viel bezüglich der Emotionen. Gar nicht so sehr im technischen Sinne, sondern bei der Interpretation.

Gershwin: Summertime aus „Porgy and Bess“

Anne-Sophie Mutter, Lambert Orkis (Klavier)
Deutsche Grammophon 2003

Ich mag das Vibrato. Kann ich das etwas lauter hören? Das ist auch Anne-Sophie Mutter! Natürlich. Ich spiele manchmal auch amerikanisches Repertoire, zum Beispiel „Over the Rainbow“, gerne als Zugabe bei Konzerten.

Bernstein: Serenade

Gidon Kremer, Israel Philharmonic Orchestra, Leonard Bernstein (Leitung)
Deutsche Grammophon 1979/2005

Oh, da muss ich passen! Den Bernstein kenne ich natürlich, aber wer spielt da? Ein großer Name, ganz sicher. Ich mag die Energie, es ist recht rau, auch im Klang des Orchesters. Man müsste das ganze Stück hören, um das noch besser bewerten zu können. Ach, Gidon Kremer! Und Bernstein dirigiert selbst. Spannende Kombination.

J. S. Bach: Partita Nr. 1 b-Moll, 4. Satz

Leonidas Kavakos, Péter Nagy (Klavier)
ECM 2005

Die Partita Nr. 1. In jedem Fall ein sehr eigener Barock- Stil – ich kann aber nicht sagen, wer das spielt. Bach ist immer etwas sehr Persönliches, gerade für Geiger. Ich liebe diese Aufnahme, schöne Phrasierungen. In Verbindung mit den Harmonien ist die Interpretation tatsächlich sehr persönlich. Genau das wollte der Interpret herausarbeiten, schätze ich. Die Aufnahme entstand in den letzten zwanzig Jahren, das hört man … Leonidas Kavakos? Echt eine Empfehlung. Werde ich mal meinen Freunden vorspielen.

Falconieri: Ciaccona, 3. Allegro ma non troppo

Daniel Hope & Lorenza Borrani (Violine)
Deutsche Grammophon 2009

Huch, was ist das denn? Das ist ja superschön! Ich liebe das. Definitiv: Ich brauche die Partitur! Wann lebte denn der Komponist? Von 1585 bis 1656, aha. Ich spiele einige der Stücke aus der Epoche. Wir hatten ein großartiges Projekt vor einigen Jahren in Frankreich, mit dem Cellisten Henri Demarquette, der die verschiedenen Teilnehmer zusammenbrachte. Drei Stunden Musik, die sich über eine Zeit von fünfhundert Jahren erstreckte. Frühbarock und Barock sind die Basis von allem, bis hin zu heutigen Popsongs. Es sind nur andere Arrangements und Ausdrucksweisen, aber die Harmonien sind dieselben … Gut, kleine Exkursion. Aber wer spielt das hier? Daniel Hope? Ich brauche dieses Album unbedingt!

Satie: Gymnopédie Nr. 1

Nigel Kennedy, English Chamber Orchestra, John Anderson (Oboe), Julie Price (Fagott)
EMI 2002

Ein Arrangement von Satie. Der Solist ist definitiv nicht französisch. Er hat einen interessanten Haarschnitt? Ich schon wieder?! Nein, das ist Nigel Kennedy, klar! Ich erkenne ihn an den Glissandi, an der Bogenführung. Um das hinzubekommen, bewegt er die rechte und linke Hand gleichzeitig. Er benutzt die gleiche Geschwindigkeit im Bogen und in den Griffen. Das macht er manchmal, um diesen speziellen Ausdruck zu formulieren. Nigel wird ja gerne als jemand gesehen, der provoziert und hart mit seinem Instrument umgeht. Aber er hat eben auch den soften Klang und eine wunderschöne Ausdrucksfähigkeit. Daraus macht er kein großes Aufheben, er macht es einfach. Punkt.

Brahms: Violinsonate Nr. 3, 2. Satz

Maxim Vengerov, Daniel Barenboim (Klavier)
Teldec 1999

Keine alte Aufnahme, jedenfalls nicht aus den Sechzigern. Von 1999? Hm. Sehr kompakt, gutes Zusammenspiel. Einige Noten sind supersoft gespielt. Gerade am Anfang ist das sehr sanglich. Auf das Klavier bin ich jetzt nicht so fokussiert, sondern auf die Stimme der Violine (singt mit). Maxim Vengerov? Ich dachte kurz daran, dass er es sein könnte, wegen dieses sanglichen Stils. Seine rechte Hand ist vielleicht die beste derzeit. So ein langsamer, schöner Bogen. Sehr eindrucksvoll.

Prokofjew: Violinkonzert Nr. 1, 2. Satz

Dmitry Sitkovetsky, London Symphony Orchestra, Sir Colin Davis (Leitung)
Virgin Classics 1988/1999

Prokofjew. Eine Live-Aufnahme? Nicht aktuell aufgenommen, würde ich sagen. Ist schon einige Jahre her. Am Anfang ganz vorsichtig, auf Sicherheit angelegt – dann plötzlich voller Energie! Ein ganz unterschiedlicher Charakter, was großartig bei einem Konzert ist. Vielleicht ein russischer Geiger? Dmitry Sitkovetsky, okay. Ich mag diese Überraschung, die er unvermittelt einbringt. In diesem Moment ganz hervorragend, was er da macht. Aber seine Einspielungen kenne ich nicht so gut, da müsste ich mich näher mit ihm beschäftigen.

Album Cover für Schumann: Violinkonzert d-Moll, 3. Satz

Schumann: Violinkonzert d-Moll, 3. Satz

Isabelle Faust, Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado (Leitung)
harmonia mundi 2015

Bei Schumann kenne ich mich nicht so gut aus. Aber wer es spielt: Isabelle Faust! Wie sie die tiefen Noten spielt, das ist unverkennbar. Auch wie sie sich zwischen Barock und Klassik bewegt. Das Schumann-Konzert ist nicht gerade mein Favorit. Vielleicht kommt das noch … Ach, das war’s schon? Wie viele Geiger habe ich erkannt? Etwa die Hälfte? Ist doch eine ganz gute Quote! Oder?

Album-Tipp

Album Cover für
Baïka – Werke von Chatschaturjan, Rimski-Korsakow & Sedlar Nemanja Radulović (Violine) Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra Deutsche Grammophon

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