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Birgit Nilsson Prize 2022 an Yo-Yo Ma

Musik als Energiestrom zwischen Kultur und Natur

(Stockholm, 18.10.2022) Der mit einer Million Dollar dotierte Birgit Nilsson Prize 2022 ging jetzt in Anwesenheit des schwedischen Königspaars in einer festlichen Zeremonie an den amerikanischen Star-Cellisten Yo-Yo Ma. Aber warum? Die Antworten fallen verblüffend überzeugend aus.

vonPeter Krause,

Die Königlich Schwedische Akademie für Musik residiert heute unweit des Opernhauses von Stockholm in jenen historischen Räumlichkeiten, in denen einst auch die Musikhochschule der Hauptstadt beheimatet war. Und an letzterer studierte eben auch die Opernlegende Birgit Nilsson, sie ging dort ein und aus, wo nun Susanne Rydén als Präsidentin der Akademie mit ihrem Team die musikalische Zukunft ihres Landes mit kraftvollen Impulsen versieht: Sie vergibt Stipendien an den hochbegabten Nachwuchs und erhebt ihre Stimme, wenn es darum geht, kulturpolitische Weichenstellungen in die richtige Richtung zu lenken. Als eines der zentralen Ziele gibt Susanne Rydén, die als Sopranistin in der Alten Musik selbst große Erfolge feierte, eine Devise aus, die auch in Deutschland mal leiser, mal lauter erschallt, aber von Seiten der Politik zu oft auf taube Ohren trifft: Das Singen muss für Kinder endlich wieder in den schulischen Alltag integriert werden. Die Königliche Akademie, die selbst keine eigenen Ausbildungsgänge anbietet, unterstützt hoffungsvolle künstlerische Individuen so intensiv, wie sie der Musikkultur als Ganzes eine Lobby bietet.

Wohlstand weitergeben – Vorbild Jenny Lind

Diese Kultur hat in Schweden fürwahr Tradition. Wer die heil’gen Hallen im zweiten Stock der Akademie betritt, kann der Tradition gleichsam in die Augen blicken. Neben Honoratioren und Mitgliedern der königlichen Familie entdeckt man als eines der kleinsten Gemälde auch gleich eines der schönsten: Es zeigt die schwedische Nachtigall Jenny Lind, die im 19. Jahrhundert als erster Superstar der Musik ganz Europa in Aufruhr, ja zumal als Bellinis Norma gar in Fieber versetzte. Sie traf Felix Mendelssohn, dessen Schüler Otto Goldschmidt sie heiratete. Sie war mit Clara Schumann befreundet, mit der sie Konzerte gab. Das Gemälde zeigt die Sängerin als anmutiges junges Mädchen, denn ihre Karriere begann früh und führte zu derart substanziellem Wohlstand, dass sie später einen Großteil ihres Vermögens in die Förderung der kommenden Generationen investierte und großzügig spendete, so auch an die Akademie.

Genealogie des Geistes

Wie sehr diese Haltung weiterwirkt, merkt man am Wirken jener großen Nachfolgerin Jenny Linds, die als bedeutendste Wagner– und Straussinterpretin der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts künstlerische und menschliche Maßstäbe setzte, die jetzt, 17 Jahre nach ihrem Tod am Weihnachtstag von 2005, mindestens so wahrnehmbar sind wie zu ihren Lebzeiten. Die Birgit Nilsson Foundation ist als Erbin des reichen Nachlasses der Hochdramatischen nun eng mit der Arbeit der Königlich Schwedische Akademie für Musik verknüpft. Dies schont die Ressourcen – so steht Akademiepräsidentin Susanne Rydén heute auch der Stiftung ehrenamtlich vor – und verbreitert die Wirksamkeit, denn die Ziele der Stifterin und jene der Akademie basieren auf demselben Geist. Als nun im klangfeinen, anno 1926 eingeweihten, im Art déco-Klassizismus erbauten Konserthuset von Stockholm, wo La Nilsson im Jahr 1945 noch vor ihrem Stockholmer Operneinstand debütierte, der mit einer Million US-Dollar dotierte Birgit Nilsson Preis an den amerikanischen Cellisten Yo-Yo Ma vergeben wurde, war dieser gemeinsame Geist in allen Begegnungen, allen Ansprachen und natürlich in den Festkonzerten selbst unmittelbar spürbar. Hier gar von einer Genealogie des Geistes zu sprechen, mag einen geradezu esoterischen Touch haben. Doch die kinderlos gebliebene Nilsson scheint als Quelle der Inspiration bei den Veranstaltungen rund um die Preisverleihung in Anwesenheit des schwedischen Königspaares eben weiterhin wirklich verblüffend präsent zu sein. Die Kraft der Sopranistin mit der durchdringenden Trompetenstimme lässt sich zwar ihrerseits auf Tonträgern staunend nachhören, wobei eben die überströmende vokale Grandezza von La Nilsson seitens der Mikrophone ihrer Zeit nicht vollends hinreichend eingefangen werden konnte. Was aber darüber hinaus von Birgit Nilsson lebendig bleibt, sind die humane Botschaft der Musik, das Berührtwerden durch Musik und deren breite Verwurzelung in der allgemeinen, gerade auch nicht-professionellen Praxis des Singens und Musizierens. Schließlich liegen die eigentlichen sängerischen Anfänge der Nilsson im Chor ihrer lokalen Kirchengemeinde.

„Ermutigung“ für einen Superstar?

Nachdem die bisherigen Preisträger dezidiert aus der Welt der Oper stammten – Plácido Domingo bestimmte La Nilsson noch höchstselbst als ersten Preisträger, es folgten die Wiener Philharmoniker, mit denen sie bis heute gültige Referenzaufnahmen wie jene von Wagners „Ring“ vorlegte, Maestro Riccardo Muti oder zuletzt ihre Soprankollegin und Landsfrau Nina Stemme, die exakt das dramatische Nilsson-Repertoire von Wagners Isolde bis zu Puccinis Turandot und Strauss‘ Färberin singt – stellten die zur jetzigen Preisverleihung anwesenden Journalisten durchaus die kritisch gemeinte Frage: „Warum Yo-Yo Ma?“ Was verbindet den amerikanischen Cello-Star mit der Sopranistin, die er selbst doch nie traf? Braucht der mutmaßlich bestbezahlte Cellist der Gegenwart die Ermutigung durch den höchstdotierten Klassikpreis der Gegenwart, der längst als inoffizieller Nobelpreis der Musik gilt?

Preisträger Yo-Yo Ma in Stockholm
Preisträger Yo-Yo Ma in Stockholm

Im Dienst der kammermusikalischen Kommunikation

Der Ausnahmerang des Cellisten in puncto unverwechselbarer Musikalität und Ausdruckstiefe steht natürlich außer Frage, seine über Jahrzehnte andauernde Laufbahn, seine intensive Auseinandersetzung mit Bach, seine Neugierde erfüllen fraglos die obligatorischen Kriterien für die Preisvergabe. Wie er nun zwei Tage vor der Preisverleihung das Cellokonzert von Dvořák mit dem Royal Stockholm Philharmonic unter dessen früherem Chef Alan Gilbert interpretierte, war erneuter Beweis seines profunden Künstlertums. Da verband der Geehrte sein Einfühlungsvermögen für die böhmischen Phrasen des Komponisten mit einer furchtlosen Freiheit der Artikulation, die dem Werk jegliche potentielle Süßlichkeit austrieb. Vor allem aber zeigte Yo-Yo Ma, wie sehr er seinen Solopart in den Dienst der kammermusikalischen Kommunikation mit den Orchesterkollegen zu stellen versteht. Musikmachen ist ihm ein genaues Zuhören, ein Aufnehmen von Energien und ein nachfolgendes Antworten auf die Impulse der anderen.

Das Zuhören als eine gesellschaftliche Kompetenz

So folgt Musik einem rhetorischen Prinzip, wird zum Gespräch mit Rede und Antwort und so sogar zum Modell des gesellschaftlichen Austauschs, durch den all die zu oft mit Angst besetzten „Anderen“ zu einem Teil eines „Wir“ werden. In seiner Dankesrede führt der Preisträger seine Philosophie weiter aus und erinnert in seinem visionär-versöhnlichen Ton mitunter an den US-Präsidenten Barack Obama, zu dessen Amtseinführung er einst spielte und dessen die Spaltung der Gesellschaft mit furchtbarem Furor betreibenden Nachfolger jetzt Yo-Yo Ma gar nicht beim Namen nennen musste, um ihn als gefährliches Gegenbeispiel dennoch mitzudenken. Hinter dem musikalischen Selbstverständnis des Cellisten steckt als sehr viel mehr als ein freundliches Interesse am Gegenüber, wie Yo-Yo Ma im Gespräch mit den Medienvertretern in seiner lockeren Mischung aus Humor und Tiefgang offenbart. Jetzt erklärt der Künstler als Humanist, dass doch das Zuhören eine gesellschaftliche Kompetenz sei, die der Teilung der Welt beherzt entgegenwirke. Er schwärmt davon, weniger das Trennende zu betonen, denn die Schnittmengen zu suchen – zwischen den drei Kreisen von Kultur, Wirtschaft und Politik. Wenn der Birgit Nilsson Prize nun als „wünschenswerte Kriterien“ jenseits eines wohlfeilen politischen Engagements dezidiert auf „zeitlose humanistische Aspekte“ zielt, dann ist Yo-Yo Ma ein mehr als würdiger Empfänger, dem es nun natürlich darum geht, mit seinen Möglichkeiten ausdrücklich etwas weiterzugeben.

Drei Sängerinnen der Zukunft: Maria Bengtsson, Emma Sventelius und Johann Wallroth
Drei Sängerinnen der Zukunft: Maria Bengtsson, Emma Sventelius und Johann Wallroth

Yo-Yo Ma verspricht, die Werte der Preisgeberin weiterzutragen.

Geht es dem Humanisten Ma um die Suche nach Wahrheit, dann ist Wahrheit im besten Falle so konkret wie eine berückend schöne Cello-Phrase. Und so hat der Preisträger also auch bereits ein Projekt im Auge, das er in den amerikanischen Nationalparks, die während der Pandemie einen ganz neuen Zulauf erfuhren, auf den Weg bringen will. Dort möchte er Indigene, Stadtmenschen und Wissenschaftler in eine „nicht-kontroverse Kommunikation“ – nicht zuletzt mittels Musik – bringen, da der „Sinn von Kultur“ sei, „verschiedene Lebensformen zu vereinen.“ Es geht ihm um lokale Projekte, die eine Balance zwischen Natur und Kultur suchten. Kein Wunder, dass ihn Birgit Nilssons Leben zwischen hochfliegendem Opernjetset und tiefer Verwurzelung in ihrer südschwedischen Heimat dazu anstachelte. Schließlich habe sie von ihren 87 Lebensjahren ganze 44 zu Hause auf dem Lande verbracht, so Yo-Yo Ma, mithin ihre Jugend und die annähern zwanzig Jahre nach dem offiziellen ihrer Karriere als Opernsängerin. Man darf gespannt sein, was Yo-Yo Ma und sein Team im Sinne von Birgit Nilsson demnächst entwickeln werden. Jedenfalls verlasse er Stockholm mit dem Versprechen, die Werte der Preisgeberin weiterzutragen.

Staffelstabübergabe an die Sängerinnen der Zukunft

Die stiftungseigenen Aktivitäten, die flankierend zum öffentlichkeitswirksam vergebenen Preis nachhaltig ihre Wirkung entfalten, sind in diesen Tagen in Stockholm nicht minder bedeutsam. Das Programm des Festkonzerts wird schließlich neben dem famosen Royal Stockholm Philharmonic Orchestra (mit dem Nilsson laut Intendant Stefan Forsberg enorme 76 mal auftrat) unter Patrick Ringborg und den exquisiten wie klangprächtigen Kollektiven von Swedish Radio Choir und Royal Swedish Opera Chorus von jenen Stipendiatinnen bestritten, die in den Genuss der Förderung der Birgit Nilsson Foundation gekommen sind – und längst ihren Weg auf die internationalen Bühnen gefunden haben. Im Finale von Richard Strauss „Der Rosenkavalier“ harmonierten Maria Bengtsson (Marschallin), Emma Sventelius (Octavian) und Johanna Wallroth (Sophie) auf ideale Weise. Die Biographien der Sängerinnen zeigen zudem eine in diesen unsicheren Zeiten erstaunliche Parallele. Sie alle emanzipierten sich früh aus der Festanstellung im Ensemble: Bengtsson ist nach ihren Anfängen an der Komischen Oper längst in die internationale Liga der jugendlich-dramatischen Soprane aufgestiegen. Johanna Wallroth verließ soeben das Opernstudio der Wiener Staatsoper, Emma Sventelius das Gärtnerplatztheater in München. Beim Dinner nach der Preisverleihung trat schließlich noch eine Truppe von Cello-Schülern auf, die zum Konzert mit dem Star eingeladen war und ihr Vorbild treffen durfte. Yo-Yo Ma, der Meister der Motivation, strahlte.

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