30-jähriges Bestehen: Das Klavier-Festival Ruhr 2018

Der rote Flügel rollt wieder …

Das Klavier-Festival Ruhr feiert dreißigjähriges Bestehen und öffnet seine Tore nicht nur für das übliche Konzertpublikum

© Mark Wohlrab

Klavier-Festival Ruhr. Das rollende Markenzeichen, der rote Flügel

Klavier-Festival Ruhr. Das rollende Markenzeichen, der rote Flügel

Da fährt er nun durch die Lande, der Lastwagen mit dem knallroten Flügel, um Abend für Abend anzuzeigen, wo die Musik gerade spielt. Vorbei an einstigen Industriestätten und -denkmälern wie dem Zollverein in Essen, der Zeche Zollern im Nordwesten von Dortmund oder dem Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Vorbei an der Mercatorhalle in Duisburg, der Wasserburg des Schlosses Herten am Rande von Recklinghausen oder dem Lokschuppen in Bottrop, vorbei an Hagen, Hamm, Hünze und Holzwickede, und an vielen Orten mehr. Überall da, wo früher malocht wurde, wird jetzt musiziert. 33 Podien stehen in 21 Städten für die 66 Konzerte beim Klavier-Festival Ruhr zur Verfügung, das diesmal unter dem Motto „Vive la France!“ sein dreißigjähriges Jubiläum feiert.

Mitte der Achtziger hatte der Klavierfabrikant Jan Thürmer die von seinem Urgroßvater Ferdinand Thürmer 1834 erbaute „Pianofortefabrik“ nach Bochum verlegt. Nur wenige Jahre später setzte er sich im Herzen von Bochum ein Denkmal mit einem Klavierzentrum, das aus Werkstatt, Lager und Ausstellungsräumen bestand und gekrönt wurde durch einen architektonisch reizvollen Konzertsaal – dem Thürmer-Saal (heute Teil der Folkwang Universität der Künste). Passend dazu rief er den „Bochumer Klaviersommer“ ins Leben, der ab 1989 unter den Namen „Klavier-Festival Ruhr“ firmierte und sich über die Jahre zum größten Pianisten-Treffen der Welt wandelte.

Ob Kissin, Volodos, Pollini oder Wang: Kaum ein Pianist von Rang und Namen, der an diesem Fest der Tasten-Matadore nicht teilgenommen hätte. Mitsuko Uchida wird diesmal dabei sein, Rafał Blechacz und Kit Armstrong. Und viele mehr. „Das Debussy-Jahr 2018“, sagt Intendant Franz Xaver Ohnesorg, „bot uns die Chance, bedeutende französische Pianisten von Pierre-Laurent Aimard über Hélène Grimaud bis Jean-Yves Thibaudet einladen zu können. Die farbenreiche französische Klavierliteratur ermöglicht uns zudem spannende Klavierduo-Abende, etwa mit Yaara Tal und Andreas Groethuysen, dem Duo GrauSchumacher, Anthony & Joseph Paratore und den brillanten jungen Pianisten Arthur und Lucas Jussen.“

Pianisten in der „No-go-Area“

Über neunzig Werke von 19 französischen Komponisten werden erklingen: von Jean-Philippe Rameau über Louis Marie Widor, Gabriel Fauré bis hin zu Maurice Ravel, Igor Strawinsky und Pierre Boulez. Ein besonderes Augenmerk gilt Camille Saint-Saëns und dem Jubilar Claude Debussy. Fernab der glänzenden Podien aber engagiert sich das Festival auch im weniger glamourösen Umfeld, etwa in Duisburg-Marxloh, das für nicht wenige der Prototyp einer deutschen „No-go-Area“ ist. Vor dem Zweiten Weltkrieg eine der reichsten Gemeinden Deutschlands, die von den Werken der August-Thyssen-Hütte lebte, kam mit dem Niedergang der Stahlindustrie und dem Zechensterben auch der Verfall des Viertels. Ganze Straßenzüge verkamen. Armutsmigranten aus Bulgarien und Rumänien prägen heute das Bild; die Auseinandersetzungen unter den libanesischen Familienclans sorgen für Polizei-Dauerpräsenz. Neunzig Prozent der Schulanfänger stammen aus Migrantenfamilien, die oft ohne Strukturen aufwachsen müssen, weil ihre Eltern keine geben können.

Mit Marxloher Musiklehrern erarbeitet Tobias Bleek vom Klavier-Festival Ruhr Projekte, um die Misere, die mehr eine psychologische als eine ökonomische ist, zu bekämpfen. Auf petruschka-klavierfestival.de etwa finden Musiklehrer Anregungen und Tipps, wie sie Strawinskys Ballett „Petruschka“ und seine Jahrmarktsszenen mit den Jugendlichen erarbeiten können. Die Kinder dürfen sich mit einem Petruschka-Comic vergnügen oder bekommen eine Anleitung zum Basteln einer Handpuppe.

Die Website gibt auch die Möglichkeit, die altrussischen Volkslieder, die Strawinsky verwendete, nachzusingen. Anhand der interaktiven Partitur kann man einzelne Instrumentengruppen herausfiltern und den Abschnitt in unterschiedlichsten Akzentuierungen der Orchestration hören. Auf einem weiteren Video präsentieren die Website-Gestalter den Drehorgelspieler Pierre Charial mit dem Schlager „La jambe en bois“ von Émile Spencer, den Strawinsky in den Wettstreit der Straßenmusikanten eingebaut hat. Die Chance auf Bildung hängt – entgegen der gängigen Meinung – dank des beeindruckenden Engagements des Festivals und seiner Sponsoren hier nicht von der sozialen Herkunft ab.

Die Festivaldaten im Überblick:

Klavier-Festival Ruhr
Zeitraum: 19.4.-13.7.2018
Mit: Pierre-Laurent Aimard, Daniel Barenboim, Alexandre Tharaud, Mitsuko Uchida, Amadeus Wiesensee, Víkingur Ólafsson, Yuja Wang, Arcadi Volodos u. a.
Orte: Essen, Bochum, Wuppertal, Duisburg, Schwelm u. a.

Klavier-Festival Ruhr. Das rollende Markenzeichen, der rote Flügel

Klavier-Festival Ruhr

24. April bis 07. Juli 2023

Das Klavier-Festival Ruhr veranstaltet jeden Sommer rund 80 Konzerte in verschiedenen Städten des Ruhrgebiets. Seit 2005 ist Franz Xaver Ohnesorg Intendant des Festivals. weiter

Termine

Freitag, 31.03.2023 20:00 Uhr Hochschule für Musik Freiburg

Jörg Widmann, Pierre-Laurent Aimard

Berg: Vier Stücke op. 5, Kurtág: Jatekok, Schumann: Fantasiestücke op. 73, Widmann: Fantasie für Klarinette solo, Weber: Grand Duo concertant Es-Dur op. 48

Sonntag, 28.05.2023 20:00 Uhr Kammermusiksaal Berlin

Pierre-Laurent Aimard, Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker, Susanna …

Strawinsky: Monumentum pro Gesualdo di Venosa, Sardaryan: The Joy of Blossoming, Ligeti: Kammerkonzert für 13 Instrumentalisten, Poème Symphonique für 100 Metronome, Sechs Bagatellen für Bläserquintett & Klavierkonzert

Dienstag, 30.05.2023 20:00 Uhr Anneliese Brost Musikforum Ruhr Bochum

Ligeti: Klavierkonzert

Klavier-Festival Ruhr
Mittwoch, 31.05.2023 20:00 Uhr Anneliese Brost Musikforum Ruhr Bochum

Ligeti: Etüden

Klavier-Festival Ruhr
Donnerstag, 01.06.2023 20:00 Uhr Folkwang Universität der Künste Essen

Gesprächskonzert

Klavier-Festival Ruhr
Freitag, 23.06.2023 20:00 Uhr Residenz München
Freitag, 28.07.2023 19:00 Uhr Mozarteum Salzburg
Freitag, 28.07.2023 22:00 Uhr Mozarteum Salzburg

Pierre-Laurent Aimard

Salzburger Festspiele
Sonntag, 30.07.2023 19:00 Uhr Mozarteum Salzburg

Ligeti: Études

Salzburger Festspiele

Rezensionen

Rezension Pierre-Laurent Aimard & Tamara Stefanovich – Visions

Mystische Aura

Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich beweisen erneut ihre enorme Expertise für die Musik Olivier Messiaens und seiner Zeitgenossen. weiter

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Musikalischer Weggefährte

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