Blind gehört Camille Thomas
„Ist das gar kein Cello?“
Camille Thomas hört und kommentiert Aufnahmen, ohne dass sie weiß, wer spielt.
© Edouard Brane
Camille Thomas
Der Weg zum Interview mit Camille Thomas in Paris gleicht einer kleinen Sightseeing-Tour: Vorbei am Louvre, geht es über die Seine zur Place de la Concorde, in dessen Nähe sich unser Treffpunkt – das Büro ihres Vaters – befindet. Trotz straffen Zeitplans und später Stunde ist die Cellistin gut gelaunt und gibt sich während des gesamten Interviews konzentriert und fachkundig ganz der Musik hin, muss häufig schmunzeln und kommt noch öfter ins Schwärmen.
Das Stück habe ich erst letzte Woche gespielt, die Aufnahme aber kenne ich nicht. Sehr interessant. Sie klingt etwas älter, auch ein bisschen altmodisch. Und doch hat sie Persönlichkeit und Fantasie. Auch diese Art zu spielen ist überraschend. Im Vergleich dazu spielen Rostropowitsch und du Pré sehr kompakt und dicht. Ich denke, es ist Pierre Fournier oder Paul Tortelier. Oder Daniil Schafran. – Mischa Maisky spielt? Oh nein, ich habe an ihn gedacht, weil es viel Portamento gibt, bin dann aber von ihm abgekommen.
Das ist einfach (lacht). Das ist von Fazıl Say. Ich bin sehr glücklich, dass er eine Komposition für mich geschrieben hat, und ich denke, dass dieses Concerto ein Meisterstück ist und ins Cello-Repertoire aufgenommen wird. Es ist ein Werk, das die Musiker spielen werden und das ein wichtiges Stück unserer Zeit bleiben wird. Fazıl spricht mit so einer Aufrichtigkeit über unser Leben. Seine Musik ist nicht einfach nur eine Beschreibung, sondern verbunden mit dem, was wir erleben und fühlen. Das Concerto erreicht die Menschen direkt in ihren Herzen, das erlebe ich jedes Mal, wenn ich es spiele. Das Werk bezieht sich auf die Terroranschläge in der Türkei und in Europa, und seine Antwort darauf lautet: „Gib niemals auf!“ Während des Concertos geht man durch das Trauma und die Dunkelheit nach den Attacken, und die Musik hilft, all das zu überwinden und ins Licht zu gehen. Ich denke, das ist wirklich die größte Macht der Musik: Hoffnung zu geben. Fazıl Say ist der Meinung, dass Musik kein Entertainment ist, sondern dass sie vielmehr eine tiefgründige Botschaft vermitteln muss. Wir Musiker wiederum haben die Rolle, diese Botschaft dann mit unserer eigenen Stimme zu erzählen.
(hört lange zu) Das ist großartig. Ich liebe dieses Stück. Es gibt so viel Energie und hat den gleichen Effekt wie zehn Tassen Kaffee am Morgen. Ich kann es also nur empfehlen (lacht). Ich denke nicht, dass ich diese Aufnahme kenne, aber ich denke, es ist Heinrich Schiff oder Nikolaus Harnoncourt, denn es ist stilistisch so perfekt. – Ah, Edgar Moreau mit Il pomo d’oro! Als es so schnell anfing, dachte ich, er ist es. Ich sollte ab jetzt immer die erste Person nennen, die mir in den Sinn kommt! Ich glaube, Edgar spielt dieses Stück am schnellsten. Ich finde es aber auch sehr spannend, wenn es langsamer gespielt wird, weil dann die Phrasierung mehr hervorsticht.
Meine erste Vermutung ist Casals. Die Aufnahme klingt so schön und erfrischend. Man hört, dass sie aus einer anderen Zeit stammt. Casals versucht nicht zu imponieren. Stattdessen klingt es, als würde er die Musik neu entdecken und interpretieren. Gleichzeitig merke ich, wie weit wir heute von dieser Spielart weggekommen sind. Deswegen ist es wichtig, sich seine Aufnahmen immer wieder anzuhören und sich dieser Tradition bewusst zu werden. Heute halten wir uns mehr an den Notentext, doch für mich steckt wahre Interpretation im jeweiligen Moment und der Freiheit, nicht alles ganz korrekt zu spielen.
Das ist Sergej Rachmaninow. Eines der schönsten Werke, das jemals geschrieben wurde. Ich liebe die Atmosphäre. Ich weiß noch nicht, wer spielt, aber ich finde es wunderschön. (Hört weiter zu) Ich habe schon viele Aufnahmen von diesem Stück gehört, war jedoch nie so ganz überzeugt, aber diese mag ich wirklich sehr. – Oh nein, das bin ich? Wirklich? Nein! Ich bin wirklich überrascht, denn wir waren damals noch so jung. Ich habe mir die Aufnahme schon seit Jahren nicht mehr angehört, aber ich weiß noch, dass sie für uns etwas ganz Besonderes war. Wir waren total in diese Sonate verliebt.
Hallelujah. Ich weiß, dass Sheku und Gautier das Stück aufgenommen haben. Aber vielleicht ist es Giovanni Sollima? – Nein? Es klingt aber nicht nach Gautier. Es ist also Sheku? Ich dachte, er hätte es als Solo-Werk aufgenommen. Können wir das noch einmal hören? Mir gefällt das Arrangement sehr gut. Es ist auf jeden Fall möglich, Brücken zwischen Unterhaltungsmusik und Klassik zu schlagen. Mir gefällt etwa sehr die Kollaboration zwischen Alexandre Tharaud und Chanson-Sängerin Barbara oder das Album von Duke Ellington mit Liedern von Édith Piaf. Für mich sind die wichtigsten Dinge in der klassischen Musik Aufrichtigkeit und Großzügigkeit, und beides höre ich bei Sheku. Er spielt mit so einer Einfachheit und mit so viel Herz. Und wenn er damit Menschen erreicht, die anschließend das Schostakowitsch-Konzert hören, dann finde ich das großartig.
Es klingt total komisch, das Stück in dieser Tonart zu hören. Ist das vielleicht gar kein Cello? Wow! Ist das Sergey Malov? – Paolo Pandolfo! Es ist wirklich sehr schön. Ich muss mir das Album unbedingt anhören.
(Sofort) Das ist natürlich Jacqueline. Aber die Preisfrage ist: Mit wem spielt sie? Denn ich glaube, es gibt von ihr zwei Aufnahmen von diesem Stück. Ich würde sagen: mit Barbirolli. Ich habe mir die Aufnahme sehr oft als Kind und Teenager angehört, es gab auch diesen Film über sie und Elgars Cellokonzert. Ich denke, ich war zwölf, als ich ihn gesehen habe und weiß noch, dass ich hin und weg war. Sie war so schön und hat so toll gespielt! Jacqueline
war wirklich eine große Inspiration für mich. Diese Aufnahme ist legendär, deswegen versuche ich heute, sie nicht mehr zu oft zu hören und meine eigene Stimme zu finden.
(lacht) Gerade haben wir noch über Édith Piaf gesprochen. Das klingt ein bisschen nach Hollywood in den Zwanzigerjahren, wie aus einem Roman von Fitzgerald. Es gibt aber keinen Solisten, oder? Ich habe mir Gautiers Aufnahme noch nicht angehört, aber das ist wahrscheinlich er, oder? – Nein? Für meinen Geschmack kann man aus dem Lied mehr machen. Ich liebe zum Beispiel die jazzige Version von Lady Gaga in schlechtem Französisch. Diese Aufnahme ist süß, aber ein bisschen zu korrekt. Ah, die 12 Cellisten! Jetzt fühle ich mich schlecht, weil ich sie so gerne mag und respektiere. Aber dieses Arrangement klingt ein bisschen so, wie sich Amerikaner Frankreich vorstellen – auch wenn es von einem deutschen Ensemble gespielt wird (lacht).
Gulda. Es macht so viel Spaß, ihn zu hören und zu spielen. Hier finde ich es schwer zu erkennen, wer spielt. Ist das wieder Edgar? Es klingt nicht wie Heinrich Schiff. Ah, ist es vielleicht Nicolas Altstaedt? Ich weiß, dass er das Werk aufgenommen hat. Und es passt zu ihm. Er ist wirklich eklektisch. Mir gefällt, dass er nicht mit viel Vibrato spielt und wirklich versucht, wie eine E-Gitarre zu klingen. Nicolas ist ein toller Künstler, der die Musik sehr ernst nimmt.
Unglaublicher Akkord! Ich glaube zu wissen, wer spielt, aber beim Stück bin ich mir noch unsicher. Ich denke, es ist Sol. Sie hat so eine Technik mit den Fingern, die fast schon einen Percussionklang erzeugen kann. Sie hat so eine sichere Hand. Immer wenn ich mir ihre Videos anschaue, bin ich fasziniert. Und man hört auch die Energie heraus, die sie hat. Ist das Stück von Vasks? Er hat ein Cellokonzert für sie geschrieben, das ich eigentlich spielen sollte, das leider coronabedingt abgesagt wurde.
Ich liebe dieses Arrangement. Meine Lieblingsaufnahme ist die alte Aufnahme von Rostropowitsch. Die klingt ein bisschen fragiler als diese hier. Jetzt, wo ich sie länger höre und auf mich wirken lasse, gefällt mir diese Aufnahme wirklich gut. Die Zartheit ist wunderschön. Ich weiß, wer spielt. Es ist Truls Mørk! – Nein? Ah, Wolfgang Emanuel Schmidt! Oh, es freut mich sehr, ihn zu hören! Mein Lieblingsstück auf diesem Album ist Satie. Das spielt er wunderbar. Er hat so eine tolle Seele, und das hört man in seinen Aufnahmen. Er war mein Lehrer in Weimar und ist ein Mensch, der wirklich will, dass seine Schüler gut sind,und der sich für ihren Erfolg freut. Als er mir vor Kurzem gesagt hat, dass er stolz auf mich ist, war das eines der berührendsten Komplimente meines Lebens.
CD-Tipp
Termine
Camille Thomas, Sinfonieorchester Aachen, Yannis Pouspourrikas
Skalkottas: Griechische Tänze, Fazıl Say: Cellokonzert, Bartók: Der wunderbare Mandarin
Camille Thomas, Sinfonieorchester Aachen, Yannis Pouspourrikas
Skalkottas: Griechische Tänze, Fazıl Say: Cellokonzert, Bartók: Der wunderbare Mandarin
Camille Thomas, Stuttgarter Philharmoniker, Dan Ettinger
Rossini: Ouvertüre zu „Wilhelm Tell“, Elgar: Cellokonzert e-Moll op. 85, Beethoven: Sinfonie Nr. 4 B-Dur
Schleswig-Holstein Proms
Rezensionen
Rezension Camille Thomas – The Chopin Project Trilogy
Eigenwillig
Aus drei verschiedenen Perspektiven nähert sich die französische Cellistin Camille Thomas dem Komplex Chopin und das Cello. weiter
CD-Rezension Camille Thomas – Saint-Saëns & Offenbach
Feinfühlig
Die Mühelosigkeit ihres Spiels, die selbstverständlich fließenden weichen Linien sowie der Farbreichtum besonders der leisen Töne begeistern auf Anhieb weiter
CD-Rezension Camille Thomas
Cello emotional
Bei der Cellistin Camille Thomas und dem Pianist Julien Libeer wird französische Kammermusik des Fin de siècle zum Ereignis weiter