Mit 28 Jahren zählt Alexandre Kantorow bereits zu den gefragtesten Pianisten seiner Generation. Beim Treffen in Hamburg beweist der Franzose einen stupenden Hang zu musikalischer Analyse und Liebe zum romantischen Repertoire.

Schubert: Fantasie C-Dur D 760 „Wanderer“
Alexander Melnikov
Harmonia mundi 2017
Schuberts „Wanderer-Fantasie“ auf einem historischen Instrument. In den Kontrasten und den Forte-Stellen hört man deutlich, wie sehr Schubert seiner Zeit voraus war. Der Pianist muss hier richtig kämpfen, um die Höhen zum Klingen zu bringen. Ist das Buchbinder? – Nein, zu András Schiff passt der Stil auch nicht. Der Interpret hat ein tiefes Gespür für Dramatik, nimmt sich Freiheiten in der Artikulation, aber bleibt dem Text ungemein treu. Ein sehr theatrales Stück. – Melnikov. Wunderbar! Ich habe die Fantasie auf dem Flügel von Arrau aus den Sechzigerjahren aufgenommen. Dessen Klang ist in den Mitten ganz warm, die Bässe sind nicht so perkussiv. Aber an ein historisches Instrument würde ich mich noch nicht trauen.

Chopin: Barcarolle op. 60
Yulianna Avdeeva
Pentatone 2024
Die Barcarolle von Chopin. Das Rubato ist großartig, man hört sofort die fließenden Bewegungen des Stücks. Die Einleitung ist knapp genommen. Das spielt jemand, der ein Gefühl für die langen Linien hat und nie das harmonische Gerüst aus den Augen verliert. Das Tempo erinnert mich an die ältere Generation von Pianisten, auch wenn das wohl eine relativ neue Aufnahme ist. – Yulianna Avdeeva also. Ich erinnere mich an einen Live-Mitschnitt mit ihr und Prokofjews zweitem Konzert, ganz fantastisch.

Brahms: Klavierkonzert Nr. 2 – 2. Allegro appassionato
Igor Levit, Wiener Philharmoniker, Christian Thielemann (Leitung)
Sony 2024
Zweiter Satz des zweiten Brahms-Konzerts. Eine klassizistische Interpretation, die den leidenschaftlichen Klang auskostet. Das Solo hier ist ungemein schwierig: Man hat in der linken Hand nur weite Sprünge, zugleich muss der Bass für das harmonische Fundament sorgen. Das Pedal wird sehr differenziert eingesetzt, klasse! Das könnte Igor Levit sein. Ich habe erst gestern für ein Video auf dem Klavier gespielt, das Igor in der Aufnahme nutzt. Man gleitet da über die Tasten wie ein Messer durch weiche Butter. Das ermöglicht so viele Farben.

Boulez: Sonate Nr. 2 – 1. Extrèmement rapide
Tamara Stefanovich
Pentatone 2025
Ich habe nicht die geringste Ahnung, was das sein könnte. Es gibt keinen tonalen Fixpunkt mehr, aber dennoch eine narrative Komponente, die voranschreitet. Etwas Mathematisches ist auch dabei. Wurde das vor oder nach der Wiener Schule komponiert? Diese Art der Musik bricht radikal mit unserer Vorstellung von einem Klang, der um ein Zentrum kreist. Das hier ist eine neue Sprache mit eigener Grammatik und Vokabular, die ich erst lernen müsste, um darin aufgehen zu können. – Ich weiß, dass Pollini die zweite Sonate von Boulez aufgenommen hat. Pierre-Laurent-Aimard? – Tamara Stefanovich kenne ich nicht.

Fauré: Violinsonate Nr. 1 – 2. Andante
Jean-Jacques Kantorow (Violine), Alexandre Kantorow (Klavier)
NoMadMusic 2014
Spielen Sie mir gerade einen Streich und jubeln mir die Fauré-Aufnahme mit meinem Vater unter? Sein Vibrato und die Art, wie er die Intervalle nimmt, erkenne ich sofort. Das ist meine allererste CD. Ich freundete mich damals mit dem Gedanken an, Berufsmusiker zu werden, während mein Vater ans Aufhören dachte. Wir wollten zumindest eine gemeinsame musikalische Erinnerung haben. Glücklicherweise hat er weitergemacht. Aber ja, diese Aufnahme ist eine wunderschöne Erinnerung an meine Anfänge.

Byrd: John Come Kiss Me Now
Kit Armstrong
Deutsche Grammophon 2021
Das ist ein sehr freier Barockstil. Ich tippe auf ein englisches Stück. Vielleicht von Byrd? Die Stimmen kommen und gehen so natürlich, der tänzerische Rhythmus ist stets da, aber wird nicht übertrieben, die Ornamente sind präzise gespielt. Murray Perahia? Ansonsten weiß ich es nicht.

Medtner: Sonate Nr. 1 f-Moll op. 5 – 1. Allegro – Maestoso
Lucas Debargue
Sony 2016
Das erkenne ich sofort: Lucas Debargue mit der ersten Sonate von Medtner, die hat er 2015 auch im Tschaikowsky-Wettbewerb gespielt. Kurioserweise hatte er einige Jahre zuvor eigentlich mit dem Klavierspiel aufgehört. Wegen ihm habe ich meine spätere Lehrerin Rena Schereschewskaja angerufen. Ich wollte wissen, wer in so kurzer Zeit in der Lage ist, jemanden so zum Strahlen zu bringen. 2019 unterstützte mich Lucas dann mental im Wettbewerb. Sein Stil am Klavier ähnelt dem eines Komponisten, das heißt, er legt viel Wert auf die Analyse eines Stücks. Das ermöglicht ihm diese unglaubliche Klarheit. Zugleich liebt er Experimente und das Improvisieren. Letztes Jahr sind wir erstmals zusammen aufgetreten. Lucas ist ein großes Vorbild für mich. – Medtner wird leider immer noch unterschätzt, dabei steht er wie kein zweiter Russe in der Nachfolge von Bach, Beethoven und Chopin. Rachmaninow hielt ihn für den größten Komponisten seiner Zeit. Da gibt es für mich noch viel zu erkunden.

Liszt: Ungarische Rhapsodie Nr. 2 cis-Moll
Vladimir Horowitz
Sony 2011
Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 2, die aus „Tom und Jerry“. Mein Vater schrieb mir als Kind eine Transkription, sodass ich wenigstens die ersten Akkorde mit meinen kleinen Händen spielen konnte. Ist das ein Pianist aus alten Tagen? Er fügt viele Noten hinzu. Cziffra? Es könnte auch Horowitz sein, aber ich glaube nicht, dass er das aufgenommen hat. – Wirklich? Ich bewundere seinen unbändigen Gestaltungswillen und seine Art dem Zuhörer das Gefühl zu geben, die Musik entstünde aus dem Moment heraus. Seine kraftvollen Bässe sind einzigartig.

Ravel: Jeux d’eau
Bertrand Chamayou
Parlophone 2016
Das sind Ravels „Jeux d’eau“. Im Unterschied zu Debussy gibt es hier keine aufbrausenden Emotionen oder verwunschenen Stellen, in denen sich die Harmonien vermischen und fortentwickeln. Ravel fordert vom Interpreten die Präzision eines Schweizer Uhrwerks, alles ist bis ins kleinste Detail durchchoreografiert. Irrsinnig schwierig. Der Pianist hier bleibt ganz nah am Notentext. Ist das vielleicht Bertrand Chamayou? – Er hat mir vor ein paar Jahren seine Gesamteinspielung geschenkt. Er ist einer der wenigen Künstler, die abgebrüht genug sind, um mit der nötigen Klarheit an Ravel heranzugehen. – Ich durfte das bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris spielen. Mir gefiel die Idee der Veranstalter, einem klassischen Stück in voller Länge die TV-Bühne zu bereiten. Und Ravel passt gut zur Vorstellung, mitten in Paris zu sein. Dass es in Strömen geregnet hat, tat sein Übriges dazu. Ich musste zwanzig Minuten zuvor an Ort und Stelle sein und war also bis auf die Haut durchnässt. Aber alleine auf einer Seine-Brücke in Paris Klavier zu spielen, das ist magisch.

Feinberg: Sonate Nr. 4 es-Moll op. 6
Marc-André Hamelin
Hyperion 2020
Das müsste ein bekanntes Werk aus dem Repertoire sein, peinlich, dass ich das nicht erkenne. Die harmonischen Läufe erinnern an Skrjabin oder irre ich mich? – Von Samuil Feinberg habe ich noch nie gehört. Ich liebe aber die Art, wie hier ein Motiv als Keimzelle für das gesamte Stück dient, wie der Komponist es erkundet, es variiert und die ganze Klaviatur ausnutzt. Das ist wie ein sich verästelnder Baum. Die meisten großen Komponisten sind diesem Prinzip gefolgt.

Beethoven: Sonate Nr. 29 B-Dur op. 106 „Hammerklavier“ – 1. Allegro
András Schiff
ECM 2008
Beethovens „Hammerklavier“-Sonate auf einem sehr klar intonierten Instrument, das gefällt mir gut. Man hört messerscharf die hohen Töne. Ist das Beatrice Rana? – Nein, hören Sie, wie markant die Gegenstimmen hervortreten. Vielleicht die letzte Aufnahme von Pollini? – Aus dessen Generation? Brendel? – András Schiff! Das erklärt die Transparenz. Sein Anschlag ist einzigartig. Für ihn muss sich alles aus einer klaren Idee heraus entwickeln. Er spielt die Feinheiten und Subtilitäten der Noten so prägnant aus wie ein Theaterschauspieler seinen Text spricht. Ich weiß, dass Schiff einen Bösendorfer für den Zyklus ausgesucht hat. Der lässt die Bassklänge nicht so verschwimmen wie ein Steinway, die einzelnen Frequenzen sind klarer. Das ermöglicht eine extreme Balance in allen Lagen. Deshalb funktioniert kontrapunktische Musik darauf so gut.

Brahms: Ballade g-Moll op. 118/3
Lars Vogt
Warner 2023
Johannes Brahms, aus einem der drei späten Klavierzyklen. Der Interpret verzögert den Rhythmus stark und setzt dadurch diese Akzente, zugleich verändert er das Tempo kaum. Das erinnert mich an Daniel Barenboim, auch wenn er das wohl nicht ist. Die Musik fließt. Sehr temperamentvoll. Das muss jemand sein, der viel Brahms gespielt hat. – Lars Vogt, natürlich! Er hat Johannes Brahms so sehr geliebt. Bei unserer letzten Begegnung haben wir ausführlich über diese Art der Tempogestaltung in den Balladen von Brahms gesprochen.