Als lang ersehnten Gast treffen wir Sylvain Cambreling zum „Blind Gehört“-Interview in der Redaktion zwischen zwei Proben mit seinen Hamburger Symphonikern. Der profilierte Dirigent kommt Weihnachten ohne das obligatorische „Weihnachtsoratorium“ von Johann Sebastian Bach aus, denn seine Lieblingskomponisten wurden im 19. oder 20. Jahrhundert geboren. Er hat mit vielen persönlich zusammengearbeitet und der Musik der Moderne eine erstklassige Bühne verschafft.
Boulez: Répons
Ensemble Intercontemporain, Pierre Boulez (Leitung). DG 1999
Es könnte Pierre Boulez sein. Ja, ist es. Eventuell könnte es „…explosante-fixe…“ sein. „Sur incises“ ist es sicher nicht. Ist es „Dérive“? Oder „Éclat/Multiples“? Ah, es ist „Répons“, bevor die Elektronik einsetzt. Können wir noch weiter hören? Jetzt kommt die Elektronik. Es ist sicher das Ensemble Intercontemporain unter Pierre Boulez. Mit ihm und auch mit dem Ensemble habe ich in den 1970er-Jahren viel zusammengearbeitet. „Répons“ ist gute Musik, ich bin aber kein Fan des Stückes. Ich mag seine frühen Stücke, wie „Le Marteau sans maître“ oder „Rituel in memoriam Bruno Maderna“. Die finde ich wirklich toll. Ich habe ein moralisches Problem mit „Répons“ – es ist teuer! Boulez hat zwanzig Jahre daran gearbeitet, zu einem Zeitpunkt, als es noch ganz neu war, Elektronik in der Musik einzusetzen. „Répons“ ist kein langes Stück, aber man muss sehr viel in Technik und Logistik investieren, um es aufzuführen. „Répons“ ist wichtig für die Musikgeschichte, aber ich werde es nicht dirigieren. Punkt. Der Grund ist nicht ästhetisch, sondern wirtschaftlich. Mich erinnert es an Richard Wagner im 19. Jahrhundert, der Ludwig II. bat, ein neues Theater zu bauen. Pierre Boulez war selbstverständlich nicht größenwahnsinnig, und natürlich braucht man Visionen und Mut für Innovationen. Unter diesem Aspekt spreche ich dem Stück seine Daseinsberechtigung zu. Es ist mir aber zu elitär.
Offenbach: Les Contes d’Hoffmann – Barcarolle
Ann Murray, Jessye Norman, Orchestre du Théâtre Royal de la Monnaie, Sylvain Cambreling (Leitung). EMI 1988
Das ist die Barcarolle von Offenbach aus „Les Contes d’Hoffmann“. Ich habe schon eine Idee, wer spielt, aber ich möchte noch ein bisschen weiter hören. Jetzt bin ich mir sicher: Gleich singen Ann Murray und Jessye Norman! Es dirigiert: Sylvain Cambreling. Ich habe meine alte Aufnahme erkannt, und zwar am Tempo, an der Phrasierung und an der Orchesterfarbe. Und natürlich an den phänomenalen Stimmen. Ich finde das immer noch sehr gelungen.
Lachenmann: Schreiben
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Susanna Mälkki (Leitung). Neos 2011
Bon. Das ist Helmut Lachenmann. Ist es „Schreiben“, das ich gerade in Hamburg dirigiert habe? Die ersten drei Takte sind sehr geräuschhaft, daran erkennt man das Stück und seine Musiksprache sofort. Ich kenne den Komponisten seit 45 Jahren und schätze vor allem den Menschen. Selbstverständlich auch seine Musik, mit der ich sehr vertraut bin. Die erste Uraufführung, die ich von einem seiner Werke gemacht habe, fand 1980 in Donaueschingen mit dem SWR-Orchester statt. Das war ein kleiner Skandal. Nach fünf Minuten war so viel Unruhe im Saal, dass Lachenmann aufstand und rief: „Stopp. Wir sind in Donaueschingen. Zuerst hören Sie zu, danach machen Sie, was Sie wollen.” Dann war die Konzentration wieder da! Für mich ist er einer der kreativsten Schöpfer des 20. Jahrhunderts, weil er ein total neues musikalisches Vokabular erfunden hat. Dabei sagt er über sich selbst, er sei kein Revolutionär. „Ich mache klassische Musik, sie klingt nur anders.“ (lacht)
Schubert/Zender: Winterreise
Julian Prégardien, Deutsche Radio Philharmonie, Robert Reimer (Leitung). Alpha 2018
Ich kenne es. Mon Dieu! Schuberts „Winterreise“ in der Fassung von Hans Zender und dirigiert von Cambreling. Ich habe es mit Christoph Prégardien aufgenommen. Nein, ich bin es nicht? Ach, dann ist es vielleicht die Aufnahme mit Hans Peter Blochwitz, wo Hans Zender selbst das Ensemble Modern dirigiert … Auch nicht? Dann muss ich noch mal genau hören, wer singt. Ah! Es ist der Sohn von Christoph, Julian Prégardien. Bon. Hans Zender nannte seine Komposition „eine komponierte Interpretation“. Ich habe die Uraufführung in Frankfurt, in der Alten Oper, selbst erlebt. Das war wirklich sehr gut. Noch heute finde ich die „Vision” von Hans Zender und was er zu diesem Werk „dazugehört” hat, beeindruckend. Das ist eine sehr gute Aufnahme mit Julian Prégardien, aber sein Vater war besser.
Messiaen: Les Offrandes oubliées
Orchestre de l’Opéra Bastille, Myung-Whun Chung (Leitung). DG 1995
Das ist von Olivier Messiaen „Les Offrandes oubliées“ (singt mit). Seinen Stil erkennt man nach vier Takten: an den besonderen Farben, an der typischen Harmonik – auch an den langsamen Tempi. Manchmal auch am Vogelgesang! Ist es ein französisches Orchester? Hm, da gibt es viele. Aber wenn es das Orchestre de l’Opéra Bastille ist, müsste es Myung-Whun Chung sein, der dirigiert. Ich selbst habe mit dem SWR Symphonieorchester sein gesamtes Orchesterwerk aufgenommen und habe ihn natürlich auch gekannt. Seine Oper „Saint François d’Assise“ habe ich dreiundzwanzig Mal mit verschiedenen Orchestern dirigiert! Ja, ich habe eine besondere Affinität zu ihm. Er war immer wichtig für mich – und bleibt es auch.
Mahler: Das Lied von der Erde – Trinklied
Fritz Wunderlich, Wiener Symphoniker, Josef Krips (Leitung). DG 1964
Das ist „Das Lied von der Erde“ von Gustav Mahler, der Anfang. Eine relativ alte Aufnahme, stimmt’s? Amerikanisch? Nein. Der Sänger ist Fritz Wunderlich. Also hat Bruno Walter dirigiert. Nein? Mit wem könnte er es gemacht haben, mit welchem Orchester? Ah, es sind die Wiener Symphoniker! Eine alte Aufnahme mit Josef Krips am Pult, die nicht so bekannt ist. Aber sie hat Biss. Ich habe das Werk auch oft und gerne dirigiert – man kann es mit Tenor und Bariton oder Tenor und Mezzosopran machen.
Mahler: Das Lied von der Erde – Trinklied
Jonas Kaufmann, Wiener Philharmoniker, Jonathan Nott (Leitung). Sony 2017
Immer noch „Das Lied von der Erde“, besser gesagt: Noch einmal. Es singt nicht Michael König, den hätte ich erkannt. Diese Aufnahme kenne ich nicht. Fast würde ich auf Jonas Kaufmann als Sänger tippen. Er hat ja auf einer Aufnahme sowohl die Tenor- als auch die Bariton-Partie gesungen, was ich für keine gute Idee halte.
Dvořák: Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 94 – 4. Finale
Atlanta Symphony Orchestra, Nathalie Stutzmann (Leitung). Erato 2024
Das ist Dvořák, der vierte Satz aus der neunten Sinfonie. Es gibt nicht viel Spielraum für die Interpretation. Im zweiten Satz kann man sehr viel mehr persönliche Farbe hineinbringen – etwa durch das Tempo oder die Akzentuierung des „amerikanischen“ Rhythmus. Man kann es auch sehr melancholisch machen. Das Finale klingt immer gleich, es ist ein konventioneller Schlusssatz, und daher ist es schwer, es anders zu machen, als erwartet. Das ist in seiner siebten und achten Sinfonie komplett anders. Daher kann ich auch nicht erkennen, wer dirigiert oder welches Orchester es ist. Nathalie Stutzmann? Ich halte sie für sehr begabt. Sie ist eine fantastische Stimme, mit der ich gerne zusammengearbeitet habe. Und ich schätze sie als Dirigentin, sie hat Power!
J. S. Bach: Weihnachtsoratorium – Bereite Dich Zion
Anne Sofie von Otter, English Baroque Soloists, John Eliot Gardiner (Leitung). DG 1987/2013
Das ist auf jeden Fall schön. Und auch sehr schön gesungen. Es ist Johann Sebastian Bach, was nicht unbedingt mein Repertoire ist. Ich höre es gerne, bringe aber die Passionen oft durcheinander. Ach so, es ist das „Weihnachtsoratorium“. Jedes Mal, wenn ich es höre, bin ich begeistert.
Aktuelles Album:
Francesconi: Cellokonzert & Violinkonzert
Jean-Guihen Queyras, Leila Josefowicz, SWR Symphonieorchester, Filarmonica della Scala, Sylvain Cambreling (Leitung), Brad Lubman (Leitung). col legno





