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Highlights der Saison 2023/2024 – Mitteldeutschland

Relevant wie eh und je

concerti-Autor Christian Schmidt stellt seine persönlichen Highlights der kommenden Saison vor.

vonChristian Schmidt,

Mag es an allen Weltenecken brennen: In Mitteldeutschland feiern ­Orchester, Musiktheater und Festivals trotz allem – oder gerade deswegen – ihren (noch) blühenden Kulturreichtum, als herrschte Frieden im guten alten Europa und als hätte es vorher auch die Corona-Schließzeiten nie gegeben. Ist das Eskapismus?

Dabei haben sich die Auslastungszahlen in den postpandemischen Jahren durchaus unterschiedlich erholt. Mancherorts kehrt das Publikum nur äußerst zögerlich oder vielleicht sogar überhaupt nicht mehr zurück: Die Hilferufe des von der Insolvenz bedrohten Gerhart Hauptmann-Theaters in Görlitz und Zittau etwa sind nicht zu überhören. Ob sie auch Widerhall finden, wird sich wohl erst mit Beginn der neuen Spielzeit erweisen. Da stellt sich eine grundsätzliche Frage: Wollen die Menschen hier noch leibhaftige Kultur erleben? Ja, wollen sie durchaus, denn die Musiktheater- und Orchesterszene erfreut sich trotz des einen oder anderen Schwunds immer noch eines regen Besucherzustroms, und irgendwer hat mal ausgerechnet, dass das Kulturpublikum deutschlandweit in Summe immer noch zahlreicher ist als die Fans aller heimischen Fußballligen zusammen.

Bezauberndes Relikt mitteldeutscher Kleinstaaterei: das Theater in Annaberg-Buchholz
Bezauberndes Relikt mitteldeutscher Kleinstaaterei: das Theater in Annaberg-Buchholz

So bunt wie nie: die hiesige Festivalszene

Dass es in Städtchen wie ­Annaberg-Buchholz, Halberstadt oder Döbeln überhaupt noch Theater gibt, teils sogar mit mehreren Sparten, gehört zu den schönsten Überbleibseln der Kleinstaaterei. Auch die Festivalszene ist so bunt wie nie und wird durchaus noch vielfältiger. Neulinge auf der Landkarte wie das Eisenacher Achava-Festival gleich im September, der Chursächsische Frühlingszauber im sächsischen Vogtland rund um Ostern oder das Musik Festival Radebeul im Spätsommer beweisen das unerschrockene Vertrauen ihrer jeweiligen Gründereltern in ein noch immer hungriges Publikum.

Dabei ist die Festivalliste eigentlich schon lang genug: Während gleich im September zum 25. Mal der Güldene Herbst zu Alter Musik in Meiningen mit mehrheitlich einheimischen Ensembles einlädt, geht es bei den Mendelssohn-Festtagen in Leipzig rund um den Todestag des Meisters ­Anfang November schon etwas internationaler zu. Zum Jahreswechsel ist Hochsaison für alle Musikschaffenden, so dass es mit den Festivals erst im Winter wieder weitergeht: Traditionell lädt das Kurt-Weill-Fest zum Geburtstag des berühmten Dessauers Anfang März in seine Heimatstadt, bevor Christian Thielemann in seiner Abschiedssaison als Chef der Sächsischen Staatskapelle zu den Richard-Strauss-Tagen über Ostern nach Dresden lockt. Bach und Händel zu Ehren steigen zur Spargelzeit die großen Musikfestivitäten in Leipzig und Halle, gefolgt von den sehr ambitionierten Schostakowitsch-Tagen im Kurort Gohrisch, die auf Ende Juni verlegt wurden.

Zahlreiche Festivals wie das Achava-Festival (hier mit der Nerly Bigband aus Erfurt) bereichern die kommende Spielzeit
Zahlreiche Festivals wie das Achava-Festival (hier mit der Nerly Bigband aus Erfurt) bereichern die kommende Spielzeit

Kassenschlager, Neu- und Wiederentdeckungen

Man könnte also von Festival zu Festival reisen, wollte man nicht zwischendurch einige Schmeckerchen verpassen. Zwar orientieren sich viele Musiktheater aus nachvollziehbaren Gründen merklich an den üblichen Kassenschlagern, und so figarot, giovannit und fledermaust es ganz gewaltig auf mitteldeutschen Bühnen. Dennoch gibt es nicht nur einige Uraufführungen und zeitgenössische Stücke zu erleben, etwa „Majesty & Madness“ von Peter Maxwell Davies in Leipzig, die „Gespenster“-Oper des Dänen Torstein ­Aagaard-Nilsen in Meiningen oder „Die Stimme der Meerjungfrau“ von Ralph Neubert in Erfurt.

Zudem wird auch Seltenes gespielt wie Martinůs „Drei Wünsche“ in Chemnitz, Prokofjews „Liebe zu den drei Orangen“ in Magdeburg oder „The Rake’s Progress“ von Strawinsky in Zwickau. Während im März das Anhaltische Theater Dessau Szymanowskis „König Roger“ aus der Versenkung holt, gräbt einen Monat später die Musikalische Komödie Lortzings „Hans Sachs“ in Leipzig aus – mit Sicherheit auf einem anderen musikalischen Horizont als Wagners „Meistersinger“. Zum Ende der Saison verabschiedet sich Intendant Peter Theiler schließlich von seiner Semperoper mit einem wahren Premierenfeuerwerk zwischen der „Frau ohne Schatten“ mit Christian Thielemann am Pult, Janáčeks „Katja Kabanowa“, einer Neufassung von „Woyzeck“ und Berlioz’ „Benvenuto Cellini“.

Dieses große Repertoire mag die Kenner locken, doch was ist mit dem Nachwuchs in den Sälen, den wenigstens vor Weihnachten beflissene Großeltern und Tanten ans Kultur­erleben gewöhnen wollen? Ungewöhnlich ist nämlich, dass es mit innovativen Märchenproduktionen in diesem Jahr eher dürftig aussieht. Von den üblichen Repertoireaufführungen zwischen „Nussknacker“ über „Schneewittchen“ bis hin zu Humperdincks unverwüstlichem Klassiker „Hänsel und Gretel“ ziehen sich die Theater seltsam poesiearm auf „Alice im Wunderland“ in allen möglichen Fassungen oder – Abstrusitäten wie „Die Schöne und das Biest“ zurück.

Seine Oper „Majesty & Madness“ ist in Leipzig zu erleben: Peter Maxwell Davies
Seine Oper „Majesty & Madness“ ist in Leipzig zu erleben: Peter Maxwell Davies

Zwischen Hinterposemuckel und Helsinki

Dafür durchlebt die Kirchenmusik in dieser Zeit ihren Höhe­punkt, und am innigsten beeindrucken die reinen Stimmen der großen über 800 Jahre alten Knabenchöre bei Bachs Weihnachtsoratorium, das in der Leipziger Thomaskirche ebenso wie in der Dresdner Kreuzkirche erklingt. Sowohl Thomaner als auch Kruzianer erfreuen sich seit nunmehr zwei Jahren einer merklichen Auffrischung ihres Klangs, was wohl daran liegt, dass beide jeweils einen neuen Kantor bekommen haben. Zu tun haben sie natürlich über das ganze Kirchenjahr hinweg, und inzwischen dürfen die singenden Botschafter des immateriellen Weltkulturerbes auch wieder auf Tournee fahren. Zwischen Hinterposemuckel und Helsinki ist so ziemlich alles vertreten, auch in der näheren Heimat. Da lohnt der Blick auf ihre Reisepläne.

Gern wird dabei übrigens geflissentlich übersehen, dass auch die immerhin mehr als 300 Jahre alten Dresdner Kapellknaben aus der ­höfischen Kathedrale auf besagter UNESCO-Liste stehen. Ob sich die katholische Kirche mit ihren Sparerwägungen bezüglich des Internatsbetriebs einen Gefallen tut und ihren Chor so weiter halten kann, steht – trotz ebenfalls neuem Leiter – auf einem ganz anderen Blatt. Dabei könnten die Jungs zur Abwechslung mal gute PR für Papst und Popen machen – abseits jeglicher Missbrauchsskandale, die bei Kirchens sonst das mediale Grundrauschen bestimmen. Immerhin treten die Kapellknaben jedenfalls nach drei Jahren Pause am 21. Dezember wieder mit ihren evangelischen Brüdern vom Kreuzchor beim Adventskonzert im Stadion auf und singen gemeinsam mit dem Publikum Weihnachtslieder auf dem Dynamorasen – eine willkommene Abwechslung für alle, die sonst nicht so furchtbar gern in Kirchen pilgern.

Wo das ganze Jahr über exquisite Kirchenmusik erklingt: Thomaskirche Leipzig
Wo das ganze Jahr über exquisite Kirchenmusik erklingt: Thomaskirche Leipzig

Hundertjähriges Jubiläum im Dreiländereck

Die Knäbelein sind jedoch nicht allein auf der weiten Flur der Kinderchöre. Der Heimatsender im Dreiländereck leistet sich noch immer seinen weithin anerkannten MDR-Kinderchor, der unter der Chefleitung von Dennis Russell Davies zusammen mit dem MDR-Sinfonieorchester am 9. Juni im Gewandhaus den Schlusspunkt unter die reiche Jubiläumssaison zum 100-jährigen Bestehen der MDR-Klangkörper setzt. Gerade angesichts des Legitimationsdrucks, dem sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk ausgesetzt sieht, kann die Besinnung auf seinen Auftrag durch die Fokussierung auf seine Ensembles nur gute Argumente liefern.

Neben Bruckners Fünfter gibt es dabei Gija Kantschelis „Angels of Sorrow“ aus dem Jahre 2013. „Ich kann den endlosen Erscheinungsformen von Rücksichtslosigkeit und Gewalt nicht gleichgültig gegenüberstehen“, ließ sich der vor vier Jahren verstorbene Komponist zitieren, als das vokalsinfonische Werk anlässlich des ­Attentats von Utøya entstand. Aber die unschuldigen Stimmen von Kindern und die einfachsten melodischen Strukturen würden, so der Georgier, seine „Einstellung zur unbeugsamen Stärke des Geistes ausdrücken, die ihn über ein unmoralisches Regime erhebt“.

Aktualität also, kein Eskapismus. Wenn die Saison so endet, ist doch nicht alles verloren.




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