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Highlights der Saison 2023/2024 – West

Ausweichen, Auswählen und Entdecken

concerti-Autor Christoph Vratz stellt seine persönlichen Highlights der kommenden Saison vor.

vonChristoph Vratz,

Die schönste Vorfreude ist vielleicht diejenige, die noch am weitesten weg liegt. Damit wären wir bereits beim nächsten Sommer. Olympia, EM – klar, sportlich ein Highlight-Sommer, dieses 2024. Das gilt auch für Musikfreunde. Für sie war die Nachricht, die erst leise geflüstert und dann im zurückliegenden Juni offiziell verkündet wurde, ein Segen, eine Hoffnung, ein Versprechen. Das Festival „Spannungen“ wird es auch nach dem Tod von Gründer und Spiritus rector Lars Vogt weiterhin geben. Christian Tetzlaff übernimmt für (zunächst) drei Jahre die künstlerische Leitung. Man darf sich also freuen, im hoffentlich sommerlichen Juni anno ’24 wieder ein paar Tage in Richtung Eifel zu tuckeln, dort Zeit und Hektik zu vergessen und abends freudig schwitzend im alten Wasserkraftwerk den Konzerten zu folgen.

Oper Köln: Rückkehr ins Stammhaus

Aber bis dann ist es ja noch eine gute Weile hin. Erst steht der Herbst vor der Tür, wettertechnisch hat er schon im ­August seine Vorboten geschickt. Nichts für zart-sonnige Gemüter. Das gilt auch für Richard Strauss’ Oper „Die Frau ohne Schatten“, ein Monsterwerk, vielschichtig, anspielungsreich, märchenhaft, verschlungen. Wer noch nie mit Strauss’ Musik in Berührung gekommen ist, sollte sich vorab freiwilliger Exerzitien unterziehen. Denn das Werk ist es allemal wert, zumal wenn, wie an der Oper Köln, Marc Albrecht dirigiert. Der hat schon einige spätromantisch-sperrige Schinken weichgeklopft. ­Katharina Thoma führt Regie. Natürlich wird noch im Ausweichquartier der Oper, im Staatenhaus, gespielt. Denn die Schlüsselübergabe für die Rückkehr ins Stammhaus soll im März des nächsten Jahres erfolgen. Wirklich? Nach zwölf Jahren Bauzeit und unzähligen Verlängerungen keimt ein kurzer Zweifel auf, und wenn die Schlüssel wirklich überreicht werden, heißt noch lange nicht, dass dann auch sofort der Umbau bespielt wird. Also muss man die Vorfreude wohl noch etwas in geduldigere Bahnen lenken. Als gesichert gilt dagegen, dass im Januar Zimmermanns „Soldaten“, die 1965 am Offenbachplatz uraufgeführt wurden, für eine neue halbszenische Produktion mit Calixto Bieito und Noch-Chef-Dirigent François-Xavier Roth in die nahegelegene Philharmonie ausquartiert wird.

Alexander Melnikov ist Porträtkünstler der Philharmonie
Alexander Melnikov ist Porträtkünstler der Philharmonie

Die hat übrigens für die kommende Spielzeit einen spannenden Porträtkünstler engagiert: Alexander Melnikov. Kaum ein Pianist der Gegenwart ist auf so vielen verschiedenen Tasteninstrumenten so kundig wie er, vom Cembalo über die zahlreichen historischen Entwicklungsstufen des 18. und 19. Jahrhunderts bis zum modernen Konzertflügel. Fünf Konzerte wird Melnikov zwischen September bis Juli bestreiten, zuletzt einen reinen Rachmaninow-Abend.

Verlockende Konzertreihen­­

Da auch im benachbarten Bonn an der dortigen Beethovenhalle aktuell Kräne stehen und täglich neue Baufahrzeuge vorfahren, fällt das Gebäude auch für die kommende Saison als Spielstätte aus. Zum Glück gibt es für klein besetzte Veranstaltungen den Saal im Beethoven-Haus. Ein idealer Raum für Kammermusik. Entsprechend verlockend kuratiert sind die einzelnen Reihen. Zu den Pianisten zählen David Fray (28.10.), Michael Korstick (2.12.) und Matthias Kirschnereit (28.4.), es gibt Liederabende mit Anna Prohaska (19.11.) und Ian Bostridge (30.5.), dazu Stars von morgen, und – alle Jahre wieder ein Highlight – einen öffentlichen Meisterkurs. Im September unterrichtet Christoph Prégardien junge Lied-Sänger. Hautnah arbeiten am Werk, Werkstatt-Luft, immer willkommen! Einen Seitenblick wert ist auch die „BTHVN ­Woche 2024“. Im Mai kuratiert Daniel Hope Programme zum Thema „Humanismus“.

Alle Jahre wieder dreht sich auch das Personalkarussell in den Führungsetagen weiter. So hat das Theater Aachen beispielsweise mit Elena Tzavara eine neue Generalintendantin. Aus dem Opernspielplan ragen vor allem zwei Produktionen heraus: Rossinis „Il viaggio a Reims“, eine Oper, die, wenn sie gut und pfiffig inszeniert ist, jede Menge Kurzweil bietet, und wahrscheinlich deshalb eher selten aufgeführt wird, eben weil sie nicht leicht zu realisieren ist. Außerdem fällt eine ungewöhnliche Paarung zweier Fragmente ins Auge: Mozarts „Zaïde“ und „Adama“ der aus Israel stammenden Komponistin Chaya Czernowin. Keine Alltagskost.

Im Beethovenhaus steht ein kleiner Saal für große Kammermusik bereit
Im Beethovenhaus steht ein kleiner Saal für große Kammermusik bereit

Getrommelt, geschlägelt und gestreichelt wird in Düsseldorf. Die Tonhalle hat den Perkussionisten Alexej Gerassimez zum neuen „Artist in Residence“ gewählt. Sechs Konzerte mit ständig wechselndem Instrumentarium. Ganz sicher zum Einsatz kommt die kleine Trommel, eine von Gerassimez’ Lieblingen: „Ich mag es, aus Banalität Kunst zu schöpfen“, erklärt er im Vorschau-Magazin. Dort erzählt er auch über viele andere interessante Dinge, die Kunst des Timings, die Schnelligkeit bei Schauen, kosmische Rhythmen und anderes mehr. Das macht neugierig, das riecht nach Fahrten gen Düsseldorf. Kabarettist Christian Ehring übrigens, der über Jahre die nach ihm benannte Reihe „Ehring geht ins Konzert“ geprägt und über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gemacht hat, schleicht sich ­davon. Die Nachfolge-Serie heißt „Comedy geht ins Konzert“, künftig dürfen sich die Herren Boning, Schroeder und Schafroth am kunstvollen Spagat zwischen pointierter Unterhaltung, Humor und Musik versuchen. Wohl geling’s. Verlockend hochkarätig liest sich die „Piano Solo“-Reihe mit Víkingur Ólafsson (15.10.), Fabian Müller (22.11.), Khatia Buniatishvili (16.12.), Jan Lisie­cki (29.2.) und Grigory Sokolov (19.4.). Auch sollte man immer eine Lücke im hauseigenen Terminkalender ausfindig machen, wenn Adam Fischer vor die Düsseldorfer Symphoniker tritt. Er hat mit seinem bereits abgeschlossenen Mahler-Zyklus gezeigt, wie weit er das Orchester vorangebracht hat. Weitere Steigerungen möglich.

Raritäten und Trouvaillen

Wir fahren weiter nördlich durchs Land. In der vergangenen Spielzeit hat Merle Fahrholz die Intendanz des Aalto-Theaters in Essen übernommen. Von den sechs Premieren stechen zwei Raritäten hervor: „L’amant anonyme oder Unerwartete Wendungen“, eine „Comédie mêlée“ von Joseph Bologne (genannt „Chevalier de Saint-Georges“) sowie „Fausto“, eine Goethe-Vertonung der romantischen Komponistin Louise-Angélique Bertin, die auch Dichterin und Malerin war, eine vergessenes Multi-Talent. Da sie selbst wegen einer Lähmung nie hat dirigieren können, hat Hector Berlioz ihr einst angeboten, die Proben für sie zu leiten. Eine Trouvaille am Aalto-Theater.

In Dortmund schmiedet man unterdessen an einem neuen „Ring“. Dass dieser Wagner-Zyklus in der Regie von Peter Konwitschny ungewöhnlich ist, zeigt allein die Reihenfolge seiner Entstehung. „Die Walküre“ feierte bereits 2022 Premiere, in der kommenden Spielzeit folgt dann das „Rheingold“. Für Chronologie-Puristen sicher schwer vorstellbar, aber bei Konwitschny steht Konvention bekanntlich nicht immer an oberster Stelle.

Schreibt keine Alltagskost: Komponistin Chaya Czernowin
Schreibt keine Alltagskost: Komponistin Chaya Czernowin

Im Konzerthaus von Dortmund ergänzen sich auf kluge Weise vier Schwerpunkte. Im November gibt es das Festival „Hilary Hahn & Friends“. Die Künstlerin stellt sich im öffentlichen Gespräch, gibt eine Meisterklasse, präsentiert ein Überraschungskonzert und anderes mehr. Als Exklusivkünstler konnte Lahav Shani gewonnen werden, Münchens künftiger Philharmoniker-Chef. Das London Symphony Orchestra spielt als Residenz­orchester dreimal auf, außerdem gibt es im Januar und Februar kommenden Jahres eine „Zeitinsel“ rund um Arvo Pärt. Kompliment, spannend kuratiert!

Und noch zwei Produktionen abseits des Mainstreams: Franz Schrekers Oper „Der Schmied von Gent“ in Münster und die Kombi von Schönbergs „Erwartung“ und „Der Wald“ von Ethel Smyth in Wuppertal – was zeigt: NRW ist groß, das Angebot riesig. Die Auswahl ist zugegeben schwer.







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